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Ein Medikament auf der Suche nach seinem Nutzen
In den frühen 1990er Jahren lernte ich auf einem Soziologenkongress einen Kollegen kennen, der sich mit dem HI-Virus angesteckt hatte. Er stand ganz offen zu seiner Homosexualität, und da Soziologen quasi von Natur aus minderheitenaffin sind, bedauerten wir den Kollegen, nennen wir ihn Max, wegen seiner damals noch nicht so gut beherrschbaren Ansteckung und wünschten ihm alles Gute. Max lebt inzwischen mit seinem Freund Ron in einer eingetragenen Partnerschaft. Vor ein paar Tagen meldete ich mich in Vorbereitung dieser Kolumne bei ihm. Ich fragte, ob er schon von einem Produkt namens Truvada gehört hätte.
"Na klar. Ron überlegt gerade, ob er das Mittel nehmen soll, damit er auch unabhängig von mir geschützt ist."
"Ich dachte ihr wäret euch treu, das hast du jedenfalls immer erzählt."
"Sind wir auch, aber man kann nie wissen." Nein, das kann man wohl nicht.
Für Max ist die Sache klar: Er nimmt Medikamente, um seine Viruslast klein zu halten und kann Ron somit nicht anstecken. Max und Ron sind ein serodiskordantes Paar und gehören laut European Medicines Agency (EMA) nicht zu den Risikopersonen, für die eine prophylaktische Einnahme von Truvada gedacht ist. Nur wenn Ron fremdginge, böte Truvada ihm einen gewissen, zwischen 40 und 70 Prozent eingestuften Schutz. Dieser Schutz ist jedoch nur gegeben, wenn er das Mittel langfristig und täglich einnimmt.
Die Hauptrisikogruppen (Drogenabhängige, Prostituierte, sexuell aktive Menschen in Ländern mit hoher HIV-Verbreitung) können sich Truvada nicht leisten, das Lifestyle-Medikament kostet etwa 800 Euro im Monat. Bis es nach Ablauf des Patentschutzes als Generikum in den Markt drängt, tragen Wohlhabende die Entwicklungskosten eines Produkts, das seit 2004 zur Behandlung von HIV-Infektionen zugelassen und nun wegen einer fragwürdigen Indikationserweiterung im Gespräch ist.
Hochkomplexe Fragen kennzeichnen die Truvada-Diskussion in den Medien und im Internet: Ist die medikamentöse, aber unvollständige Vorbeugung einer potenziellen HIV-Infektion sinnvoll? Geht die Zahl der Neuinfektionen wieder nach oben, weil das Mittel dazu verführt, ungeschützten Sex zu treiben? Wer soll das Mittel nehmen und warum? Trägt es zu weiteren Resistenzen des HI-Virus bei?
Auf solche Fragen und auf auch für Laien verständliche Antworten stoße ich seitenweise im Lauf von nur drei Stunden Internetrecherche. Nun kann ich den Wahrheitsgehalt meiner Quellen nur am Rande beurteilen, aber ich habe den Eindruck einer ernsthaften pharmazeutischen Diskussion, in der es nicht nur um Strukturformeln, Langzeitfolgen und Resistenzbildung geht, sondern um Lebensstil, Werte und Zukunftsperspektiven.
Jeder, der will, redet mit. Diese Freiheit treibt ein paar sonderliche Blüten, wie etwa eine Diskussion über die Behauptung, HIV sei nur eine Erfindung der pharmazeutischen Industrie, die sich damit gewaltige Absatzmärkte sichere. Dennoch stellt die Skepsis der vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts einen enormen kulturellen Fortschritt dar. Ein naturwissenschaftlich gefeierter und nur zögernd in seiner ganzen Abscheulichkeit erkannter Eingriff wie die Lobotomie etwa, die über 30 Jahre lang weltweit durchgeführt wurde, unter anderem an Homosexuellen, wäre heute innerhalb von Monaten disqualifiziert. Auch Thalidomid und Diethylstilbestrol hätten in einem skeptischen Umfeld weniger Unheil angerichtet.
Ich nenne das, was im Internet zu jedem noch so komplexen Thema kursiert, bewusst nicht Schwarmintelligenz, das ist für mich fast schon ein Schimpfwort. Vielmehr sehe ich einen selbstorganisiertem Skeptizismus entstehen, den es noch nie zuvor gegeben hat.
Organisierter Skeptizismus ist ein Begriff des amerikanischen Soziologen Robert K. Merton, der ihn allerdings auf den wertneutralen Austausch unter Wissenschaftlern reduzierte. In der vernetzten Welt ist Skepsis nicht mehr auf die Wissenschaft beschränkt und sie ist auch nicht wertneutral. Sie steht jedem zu, und ohne eine gesunde Portion Skepsis sind wir nicht viel mehr als eine blökende Hammelherde. Überall, wo Skepsis unerwünscht ist, wird der Eigensinn, der unsere Menschlichkeit ausmacht, unterdrückt. Dann aber sagen andere, wo es lang geht, Fehlentwicklungen eingeschlossen. Die Truvada-Diskussion zeigt, dass sich die Zeiten ändern.
Organisierter Skeptizismus steht für die Werte der Aufklärung und der westlichen Welt, aber erst im 21. Jahrhundert, unterstützt durch das Internet, setzt er sich wie von allein als Breitenphänomen durch. Auch Ron wird davon profitieren und sich seine Entscheidung genau überlegen.
Gerhard Schulze
Gerhard Schulze, geb. 1944, ist Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Seine Arbeiten untersuchen den kulturellen Wandel der Gegenwart.
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