Pandemie Spezial

Trumpfkarte Antigentest?

Verlockend ist die Schnelligkeit, der Preis die geringe Sensitivität

Seit Wochen werden Antigen-Schnelltests auf SARS-CoV-2 angekündigt und als Ausweg aus der diagnostischen Misere gepriesen. Mit Inkrafttreten der Coronavirus-Testverordnung vom 14. Oktober 2020 stellte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) endlich eine Liste von Testkits online, die zumindest gewisse Mindestkriterien erfüllen [1]. Unabhängig validiert sind sie bisher nicht. Die Erwartungen sind hoch, so sollen sie asymptomatische Infizierte aufspüren, etwa Besucher von Pflegeeinrichtungen. Mit grenzwertig niedriger Viruslast haben schon die empfindlichen PCR-Tests Schwierigkeiten. Nur richtig eingesetzt, im Wissen um die Limitationen bezüglich der Aussagekraft, können Antigentests eine neue Trumpfkarte in der Corona-Pandemie sein. | Von Ralf Schlenger 

Der „Goldstandard“ PCR (Polymerase-Ketten-Reaktion) als Test auf Sars-CoV-2 hat zwei Nachteile: Die Testmaterialien sind derzeit knapp und die Wartezeiten auf ein Ergebnis lang. Als Express-Test wurden in den letzten Monaten von zahlreichen Herstellern Antigentests im Point-of-Care-Format entwickelt, die den direkten, rein qualitativen Nachweis von SARS-CoV-2-Nukleokapsid-Protein erlauben. Es handelt sich dabei überwiegend um einfach handhabbare, immunchromatografisch arbeitende Lateral-flow-Tests, wie sie auch zur Diagnostik von HIV und Influenza eingesetzt werden (s. Kasten „So funktioniert der Antigen-Schnelltest“). Ihre Anwendung ist, ungeachtet der aktuellen Diskussion um Corona-Testung durch Apotheken, „medizinischem Fachpersonal“ vorbehalten, denn es ist beim Probanden der übliche nasopharyngeale oder oropharyngeale Abstrich vorzunehmen wie auch für einen PCR-Test. Die weitere Durchführung ist simpel: Das Teststäbchen mit dem Abstrich wird in einem Röhrchen mit Pufferlösung kurz extrahiert. Von der Lösung wird eine definierte Tropfenzahl auf die Testkassette gegeben. Nach 15 bis 30 Minuten ist ein Ja-Nein-Ergebnis ablesbar, ähnlich wie beim Schwangerschaftstest.

 

So funktioniert der Antigen-Schnelltest

Immunologische Assays, also Tests auf Basis einer Antigen-Antikörper-Reaktion, existieren in zwei Haupttypen: ELISA (enzyme-linked immunosorbent assay) und LFA (lateral flow assays).

ELISA-Tests sind komplex, nur von trainiertem Personal unter sterilen Laborbedingungen durchzuführen, aber hoch sensitiv.

Lateral-Flow-Tests (LFA) sind einfache Point-of-care-Formate, entwickelt für transportable und rasche Anwendung vor Ort, um den Preis einer geringeren Aussagekraft. Lateral-Flow-Tests arbeiten nach dem immunchromatografischen Testprinzip. Die gesamten Bestandteile sind in einer Testkassette angeordnet, manche Hersteller sprechen von Teststäbchen. Die im Laufmittel gelöste Probe wird auf das Testfeld der Kassette aufgeträufelt. Die Probe wandert mit dem Laufmittel in einen Bereich des Teststreifens, in dem sich in einer Salz-Zucker-Matrix farblich markierte Antikörper befinden, gerichtet gegen das gesuchte Antigen (Analyt). Für die Farbmarkierung werden oft Latex (blau) und Gold (rot) verwendet. Die markierten Antikörper werden durch das Laufmittel mobilisiert und reagieren mit Antigen, sofern vorhanden. Die entstandenen Antigen-Antikörper-Komplexe wandern weiter im Teststreifen zum eigentlichen Ablesebereich, der weitere Antikörper enthält. Diese sind im Ablesefeld immobilisiert und führen durch die Fixierung und Anreicherung der farbmarkierten Antigen-Antikörper-Komplexe zu einer sichtbaren Färbung oder zu einer Fluoreszenz. Dies lässt sich visuell oder photometrisch ablesen. Bei den in Rede stehenden Schnelltests auf SARS-CoV-2 geschieht es ganz überwiegend rein visuell. Zusätzlich enthalten Lateral-Flow-Tests eine Kontrolllinie, die Antikörper gegen das verwendete Immunkonjugat enthält. Sie dient zur Kontrolle, ob die Probe den Teststreifen vollständig durchwandert hat. Erscheint sie nicht, ist der Test ungültig.

Antigentests – für wen?

Bei symptomatischen Personen sollen Antigentests laut der neuen Nationalen Teststrategie nur im Ausnahmefall angewendet werden, z. B. bei begrenzter Kapazität der PCR-Tests oder wenn ein Ergebnis schnell vorliegen muss. Bei asymptomatischen Personen sind die Empfehlungen differenziert nach Zielgruppen und nach Kriterien der Exposition oder Disposition. Grundsätzlich gilt bei bestätigten Kontakten mit COVID-19-Fällen immer noch das Primat der PCR-Testung. „Möglich“ sind Antigentests im Rahmen eines (vermuteten) COVID-19-Ausbruchs, sei es lokal in der Allgemeinbevölkerung, in Krankenhäusern, Einrichtungen für ambulante Operationen oder Dialyse, Reha- und Pflegeheimen und (Zahn-)Arztpraxen. Ermöglicht wurden sie auch für Einreisende aus Risikogebieten. Eine „Empfehlung“ wird ausgesprochen für die Antigentestung von Patienten, Personal und Besuchern der genannten Einrichtungen – vorausgesetzt immer, es ist kein COVID-19-Fall im Spiel. Für Tests von Besuchern in Einrichtungen (unmittelbar vor deren Besuch) wird auf die Abstimmung mit den Gesundheitsämtern und die Abhängigkeit von lokalen Neuinfektionen (Sieben-Tage-Inzidenz > 50/100.000) verwiesen [2].

 

Die PCR und der Ct-Wert

Mit der Polymerase-Ketten-Reaktion (PCR) werden RNA-Abschnitte des Erbguts von SARS-CoV-2 durch Vervielfältigung direkt nachgewiesen. Ein Maß für die im Abstrich vorhandene Virusmenge ist der Ct-Wert (Cycle-threshold-Wert). Er gibt den Messzyklus an, bei dem zuerst ein exponentieller Anstieg des Messsignals, in der Regel eines Fluoreszenz-Signals, beobachtet werden kann. Von dem Ct-Wert schließt man auf die Viruskonzentration der Probe: Je höher der Wert ist, desto niedriger ist die Viruskonzentration. Ct-Werte von > 30 gelten dabei als Hinweis auf eine niedrige Viruskonzentration, Werte von > 35 auf eine sehr niedrige Viruskonzentration. Je höher die Viruslast im Nasen-Rachen-Raum, umso höher ist die Infektiosität.

Hohe Ct-Werte sind nicht zwangsläufig ein Hinweis auf eine niedrige Viruslast. Sie können auch die Folge eines falschen Nasen-Rachen-Abstrichs sein. Oder sie können auch darauf hindeuten, dass die Infektion schon im Abklingen ist oder dass das Virus in tiefere Bereiche der Atemwege bzw. in die Lunge abgewandert ist.

Asymptomatische Überträger im Visier

Hauptzielrichtung des empfohlenen Einsatzes sind also asymptomatische Personen. Dies vor dem Hintergrund, dass auch symptomlose SARS-CoV-2-Infizierte (Silent Transmitter) ansteckend sein können – und zwar sowohl präsymptomatische Menschen kurz vor den ersten Krankheitszeichen als auch die eigentlich asymptomatischen Personen, die überhaupt keine Krankheitszeichen entwickeln [3]. Während asymptomatische Ansteckungen durch Silent Transmitter vermutlich eine untergeordnete Rolle spielen, geht laut Robert Koch-Institut (RKI) von präsymptomatischen Personen ein bis zwei Tage vor deren Symptombeginn ein „relevanter“ Anteil der Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 aus. Als sicher gelte, dass die Ansteckungsfähigkeit in der Zeit um den Symptombeginn herum am größten ist [4]. Nach Modellrechnungen zur Frühphase der Pandemie sind sym­ptomlose Virusträger für über die Hälfte der Neuinfektionen verantwortlich [5, 6].

Dies steht in Einklang mit der Beobachtung, dass eine hohe Viruslast im oberen Atemtrakt schon in der präsymptomatischen Phase von COVID-19, also ein bis drei Tage vor Sym­ptombeginn, auftreten kann, ebenso wie in der frühen symptomatischen Phase – innerhalb der ersten fünf bis sieben Tage [7]. Die Erwartung an Antigen-Schnelltests ist, dass sie in diesen Phasen die Möglichkeit einer frühen Diagnose und Unterbrechung der Übertragung eröffnen, indem Infizierte erkannt und einschließlich ihrer engen Kontaktpersonen gezielt isoliert werden.

Sicher nur bei hoher Viruslast

Voraussetzung dafür ist eine operative Sensitivität des Tests, die eine Infektion vom Beginn der (übertragungsrelevanten) Ausscheidung des Virus bis zum Ende der Kontagiosität des Betroffenen anzeigt. Ob dies gegeben ist, müssten laut RKI vergleichende Studien prüfen, wie PCR- vs. AG-Testreihen mit Mindestwerten für positive wie negative Übereinstimmung bzw. klinische Studien in der praktischen Anwendung des Tests [8]. Publizierte Daten liegen bisher nur für wenige Antigen-Assays vor; in einer aktuellen Cochrane-Analyse wurden für ältere Antigentests (bis Mai 2020) unzureichende Sensitivitäten im Bereich von 56% bei hoher Spezifität (> 99%) berichtet, trotz zum Teil hoher Viruslast der Testmuster [9]. Ein WHO-Dokument vom September 2020 stellt fest, dass die Sensitivität von Antigentests aus Nasal- oder Nasopharyngeal-Abstrichen verglichen mit PCR-Tests hoch variabel ist; berichtet wird eine Bandbreite der Sensitivität zwischen 0 und 94%, bei einer Spezifität von über 97%. Von einer hohen Aussagekraft der aktuellen Antigentests könne man indes bei hoher Viruslast ausgehen, also bei Ct-Werten ≤ 25 oder > 106 Viruskopien/ml [7]. Die Abbildung zeigt, wann nach einer Virusinfektion PCR-Tests, Antigentests und Antikörpertests einsetzbar sind.

 

Abb.: Labordiagnostik von SARS-CoV-2 in Abhängigkeit vom Infektionsverlauf. NAT = Nukleinsäure-Amplifikationstechniken [nach: Akkreditierte Labore in der Medizin, www.alm-ev.de]

Zur Festlegung einer analytischen Mindestsensitivität ist derzeit laut Paul-Ehrlich-Institut (PEI) weder für SARS-CoV-2-­RNA noch für SARS-CoV-2-Antigen ein internationaler Standard verfügbar. Das für In-vitro-Diagnostika zuständige PEI hat daher unter Beteiligung des Robert Koch-Instituts Mindestkriterien für Antigentests auf SARS-CoV-2 gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 TestVO (Testverordnung) festgelegt, die am 15. Oktober 2020, zeitgleich mit dem Inkrafttreten der neuen Testverordnung veröffentlicht wurden [10]. Hersteller, deren Testkits die Mindestkriterien erfüllen, können ihre Tests in eine beim BfArM geführte Liste eintragen lassen [11]. Eine Information der Hersteller von Antigentests über die Mindestkriterien fand bereits vorab statt, so dass am 16. Oktober 2020 schon ein Dutzend Tests von Herstellern weltweit gelistet waren, mit Stand vom 24. Oktober 2020 waren es 56 – Dubletten eingeschlossen. Eine Überprüfung der Angaben durch Vergleich mit gegebenenfalls vorhandenen unabhängigen Validierungsstudien erfolgt nicht und ist durch die Verordnung auch nicht vorgesehen, bestätigte das BfArM auf Anfrage (s. Kasten „CE: Hersteller zertifizieren sich in Eigenregie“).

 

CE: Hersteller zertifizieren sich in Eigenregie

Tests auf SARS-CoV-2 unterliegen für die Marktzulassung der EU-Richtlinie über In-vitro-Diagnostika (IVD). Als „IVD niedrigen Risikos“ durchlaufen sie derzeit kein behördliches Zulassungsverfahren, sondern lediglich ein „Konformitätsbewertungsverfahren“, an dessen Ende das CE-Kennzeichen steht. Der Hersteller muss nachweisen, dass sein Produkt sicher ist und die technischen und medizinischen Leistungen so erfüllt, wie sie von ihm beschrieben werden.

Solange Hersteller ihre Diagnostika selbst zertifizieren, ist die Validierung aus Sicht des für In-vitro-Diagnostika zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts nicht gesichert. Bei Tests, die im Internet und in Apotheken angeboten werden, habe es nachweislich Fälschungen gegeben. Das PEI hat daher unter Beteiligung des Robert Koch-Instituts (RKI) Mindestkriterien für Antigentests auf SARS-CoV-2 gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 TestVO (Testverordnung) festgelegt. Vergleichenden Evaluierungen der Leistungsdaten der gelisteten Tests sind darin eine „Kann“-Vorschrift [10].

Erst unter der künftigen IVD-Verordnung, umzusetzen ab Mai 2022, muss zur Validierung ein EU-Referenzlabor sowie eine Benannte Stelle hinzugezogen werden, da die COVID-19-Tests dann voraussichtlich in die höchste Risikoklasse gehören werden. Dies erfordert eine Laboruntersuchung der Tests sowie eine unabhängige Überprüfung der Daten [12].

Weltweit nimmt die Zahl der Testsysteme auf SARS-CoV-2 rasant zu. Derzeit sind insgesamt rund 900 verfügbar oder in Entwicklung, darunter rund 50 Antigentests mit CE-Kennzeichnung [13].

Mindestkriterien von PEI / RKI für Antigentests

Gefordert werden Leistungsdaten zu Sensitivität, Spezifität, Kreuzreaktionen, Interferenz sowie Stabilitätstests.

Bei der Bestimmung der Sensitivität lautet die Mindestanforderung von PEI/RKI: Mindestens 70% von unselektierten PCR-positiven Proben von Personen mit COVID-19-Symptomen innerhalb von sieben Tagen nach Symptombeginn muss der SARS-CoV-2-Antigenschnelltest als positiv erkennen. Dazu werden Probenmaterial mit PCR- und Antigentest parallel untersucht. Diese niedrige Hürde nehmen die derzeit gelisteten Testkits problemlos. Die Herstellerangaben für die Sensitivität liegen im Bereich von rund 88 bis 97,3%, bei unterschiedlich weiten 95%-Konfidenzintervallen. Auch bei den Probenzahlen, anhand derer die Sensitivität und Spezifität im Vergleich zum PCR-Test ermittelt wurden, gibt es eine weite Spannbreite, bisweilen basieren die Prozentangaben auf weit unter 100 Proben.

Gewünscht, aber nicht zwingend vorgeschrieben: Die Hersteller „sollten“ die verwendete PCR-Methode beschreiben und die Ct-Werte positiver Proben mit der entsprechenden Aussagekraft des Antigentests korrelieren. Dies soll dem Anwender einen Anhalt über die Zuverlässigkeit des Tests in Proben mit grenzwertiger Viruslast geben, wie sie bei infizierten asymptomatischen Patienten typisch ist. Das Korrelieren zwischen Ct-Wert und Sensitivität des PCR-Tests erfüllen nicht alle Hersteller, man findet sie in nur wenigen Gebrauchsanleitungen. Zu beachten ist, dass Ct-Werte von PCR-Systemen zwar Anhaltspunkte für die Viruskonzentration bieten, aber zwischen unterschiedlichen PCR-Verfahren nur mit Einschränkungen vergleichbar sind.

Bei der Spezifität ist die Untergrenze 97%. Dazu sollen asymptomatische Personen ohne konkretes Expositionsrisiko im SARS-CoV-2-Antigenschnelltest untersucht und etwaige reaktive Proben mittels PCR abgeklärt werden. Hier kommen die meisten Hersteller auf Werte im Bereich 99 bis 100%.

Zur Bestimmung einer möglichen Kreuzreaktivität mit verwandten humanen Coronaviren soll der Antigentest Proben mit hoher Konzentration (> 106 Viren/ml) z. B. der „Erkältungsviren“ HCoV-229E / HCoV-OC43 / HCoV-NL63 oder von MERS-CoV prüfen.

Zur Ermittlung von Interferenzen mit Pathogenen, die eine COVID-19-analoge Symptomatik hervorrufen können (z. B. Influenzaviren, RSV) oder die mit dem Testprinzip interferieren könnten (z. B. Protein-A-positive Staphylococcus aureus aus Nasenabstrichen), soll der Antigentest entsprechende Pathogen-positive Proben untersuchen.

Die Leistungsdaten „können“, so das PEI, anhand einer Evaluierung durch verschiedene Institutionen in Deutschland (u. a. RKI, PEI, Konsiliarlabor für Coronaviren, Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr) mithilfe eines gemeinsamen Probenpanels und im Vergleich mit anderen Tests überprüft werden. Testreihen sind unter anderem an der Berliner Charité im Gange.

 

Auf einen Blick

  • Antigentests können grundsätzlich dort eine sinnvolle Ergänzung der PCR-Testkapazitäten darstellen, wo in der frühen Phase der Infektion schnell (vor Ort, Point-of-Care) eine erste (Vor-)Entscheidung über das mögliche Vorliegen einer übertragungsrelevanten Infektion bei einer Person gefällt werden soll.
  • Antigen-Tests erreichen prinzipiell nicht die Sensitivität von rt-PCR-Tests. Operativ sicher sind sie bei hoher Viruslast, wie sie um den Zeitpunkt des Auftretens erster Symptome besteht.
  • Vor allem (noch) asymptomatische Personen könnten durchs Testraster fallen, ein falsch negatives Ergebnis hätte etwa bei einem nicht erkannten Eintrag einer Infektion bei Aufnahme in einem Krankenhaus schwerwiegende Konsequenzen.
  • Ein positives Ergebnis im Antigentest ist grundsätzlich mittels PCR zu bestätigen.
  • Wie bei jedem Test sollte die Vortestwahrscheinlichkeit (Prävalenz, klinisches Bild) beachtet werden.

Vortestwahrscheinlichkeit einbeziehen

Nun hängt der tatsächliche positive oder negative Vorhersagewert beim Antigentest wie auch bei der PCR nicht allein von der operativen Genauigkeit ab. Man sollte sich stets die Vortestwahrscheinlichkeit klarmachen, mahnt auch das Robert Koch-Institut. Darunter versteht man die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Erkrankung vorliegt, bevor eine zusätzliche diagnostische Maßnahme, beispielsweise eine Laboruntersuchung, durchgeführt wird. Es fließen die geschätzte Prävalenz der Infektion in der Bevölkerung sowie die klinische Einschätzung der getesteten Person ein. Bei asymptomatischen Menschen sinkt per se die Vortestwahrscheinlichkeit, zumal, wenn sie aus einem Umfeld niedriger COVID-19-Prävalenz kommen.

Selbst bei den sensibler arbeitenden PCR-Testassays gehen britische Ärzte in der Praxis von einer Sensibilität von nur 70% und von 95% Spezifität aus [14]. Ähnlich niedrig haben das Paul-Ehrlich-Institut und das Robert Koch-Institut die Eckwerte in den jetzt gültigen Mindestkriterien für Antigentests gelegt: 70% Sensibilität und 97% Spezifität. Dies vorausgesetzt, dass bei einer COVID-19-Prävalenz von z. B. 3% die Testung von 100 Personen zwei der drei Infizierten erfassen würde; ein Test wäre falsch negativ, drei falsch positiv. Der negative Vorhersagewert (richtig negative dividiert durch die Gesamtzahl negativer Ergebnisse) wäre mit 0,98 gut, ein negatives Testergebnis eine recht sichere Sache. Der positive Vorhersagewert läge nur bei 0,4 – was die Forderung des RKI unterstreicht, dass ein positives Ergebnis im Antigentest grundsätzlich mittels PCR bestätigt werden muss [2]. |

Literatur

 [1] Verordnung zum Anspruch auf bestimmte Testungen für den Nachweis des Vorliegens einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronavirus-Testverordnung – TestV) vom 14. Oktober 2020, www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Verordnungen/Corona-Test-VO_BAnz_AT_141020.pdf

 [2] Nationale Teststrategie – wer wird in Deutschland auf das Vorliegen einer SARS-CoV-2-Infektion getestet? Informationen des Robert Koch-Instituts, www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Teststrategie/Nat-Teststrat.html

 [3] Huff HV et al. Asymptomatic transmission during the COVID-19 pandemic and implications for public health strategies. Clinical Infectious Diseases 28. Mai 2020;ciaa654, https://doi.org/10.1093/cid/ciaa654

 [4] SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19). Informationen des Robert Koch-Instituts, www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText3

 [5] Nishiura H et al. Estimation of the asymptomatic ratio of novel coronavirus infections (COVID-19). International Journal of Infectious Diseases 2020;94:154-155, https://doi.org/10.1016/j.ijid.2020.03.020

 [6] Moghadas SM et al. The implications of silent transmission for the control of COVID-19 outbreaks. PNAS 6. Juli 2020, https://doi.org/10.1073/pnas.2008373117

 [7] Antigen-detection in the diagnosis of SARS-CoV-2 infection using rapid immunoassays. Informationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), www.who.int/publications/i/item/antigen-detection-in-the-diagnosis-of-sars-cov-2infection-using-rapid-immunoassays

 [8] Hinweise zur Testung von Patienten auf Infektion mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 – Antigennachweise. Informationen des Robert Koch-Instituts, www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Vorl_Testung_nCoV.html#doc13490982bodyText5

 [9] Dinnes J et al. Cochrane Systematic Review - Diagnostic Version published: 26. August 2020, https://doi.org/10.1002/14651858.CD013705

[10] SARS-CoV-2-Testsysteme – Mindestkriterien für SARS-CoV-2-Antigenschnelltests. Informationen des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), www.pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/testsysteme.html

[11] Antigentests auf SARS-CoV-2. Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), www.bfarm.de/DE/Medizinprodukte/Antigentests/_node.html

[12] COVID-19-Tests: NAT-Test gilt als Goldstandard. Informationen des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), www.pei.de/DE/newsroom/hp-meldungen/2020/200323-covid-19-nat-tests.html

[13] SARS-CoV-2 diagnostic pipeline. www.finddx.org/covid-19/pipeline/

[14] Watson J, Whiting PF, Brush JE. Practice Pointer: Interpreting a covid-19 test result. BMJ 2020;369:m1808, www.bmj.com/content/369/bmj.m1808

[15] Hinweise zur Testung von Patienten auf Infektion mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2. Informationen des Robert Koch-Instituts, www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Vorl_Testung_nCoV.html#doc13490982bodyText5

Autor

Ralf Schlenger ist Apotheker und arbeitet als freier Autor und Medizinjournalist in München.

„Ein großer Feldversuch“

Foto: Stiftung Universitätsmedizin/Universitätsklinikum Essen

Prof. Dr. Ulf Dittmer

Prof. Dr. Ulf Dittmer, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Essen, hat im Gespräch mit der DAZ die Antigentests eingeordnet:

 

DAZ: Wie schneiden Antigentests im Vergleich zur PCR-Testung ab?

Dittmer: Wir haben im Kliniklabor sechs Antigentests verschiedener Hersteller ausprobiert. Bei unserem „Testsieger“ gibt der Hersteller die Sensitivität mit 96,5% an. Er hatte in unseren Versuchen eine Nachweisgrenze, die einem ct-Wert von 27 im Referenz-PCR-Test entsprach. Dabei handelt es sich um einen Näherungswert, da keine direkte Vergleichbarkeit zwischen AG- und PCR-Test gegeben ist. Wenn man davon ausgeht – und das tut auch das RKI mittlerweile –, dass Infizierte mit einem Ct-Wert jenseits 30 niemanden anstecken können, und der Antigentest geht verlässlich bis 27, besteht also eine gewisse Lücke in der Identifikation von Risikopersonen. Wo die Grenze der Kontagiosität liegt, wissen wir aber nicht genau, zumal die Ct-Werte zwischen unterschiedlichen PCR-Verfahren nur mit Einschränkungen vergleichbar sind.

 

DAZ: Wofür werden Sie Antigentests einsetzen?

Dittmer: Als Ergänzung zu PCR-Tests, bei denen wir ständig am Limit arbeiten, weil die Testmaterialien derzeit nur kontingentiert von den Firmen geliefert werden. Bei Patienten und Mitarbeitern mit verdächtigen Atemwegssymptomen, bei denen die Frage ist, ob das durch SARS-CoV-2 bedingt ist oder durch andere Erreger, werden wir Antigentests einsetzen, in diesen Fällen sind sie sehr verlässlich und schnell. Auch in Arztpraxen wird es viele Situationen geben, in denen es auf eine rasche Entscheidung ankommt.

 

DAZ: Ein wesentlicher Baustein der Nationalen Teststrategie ist aber seit letzter Woche der Einsatz von Antigentests bei asymptomatischen Personen!

Dittmer: Das habe ich auch so verstanden und finde es etwas bedenklich, weil wir dafür eigentlich zu wenig Daten haben. Einige SARS-CoV-2-­infizierte Menschen sind asymptomatisch mit geringer Viruslast bzw. hohem Ct-Wert, aber sie könnten andere anstecken. Besonders sogenannte präsymptomatische Personen, die einige Tage vor Beginn ihrer COVID-19-Erkrankung bekannt infektiös sind. Ich halte es für sehr ungewiss, ob man diese grenzwertigen Fälle mit den Antigentests ausreichend identifizieren kann. Dafür wurden die Tests an zu wenigen asymptomatischen Patienten getestet. Wenn wir die Antigentests jetzt flächendeckend bei asymptomatischen Menschen anwenden, starten wir einen großen Feldversuch.

 

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