Hintergrund

Neuer Ärger um ein altes Produkt

Was bedeuten die Streitigkeiten rund um die Opiumtinktur?

In den vorigen Wochen hat das Thema Opiumtinktur für viel Aufmerksamkeit und manche Aufregung gesorgt. Der Hersteller des Fertigarzneimittels Dropizol® hat sich erneut an die Apotheken gewandt. Zur Verfügbarkeit des Fertig­arzneimittels beim Großhandel gibt es widersprüch­liche Aussagen. Der Apothekerverband Westfalen-Lippe hat von der unveränderten Abfüllung von Opiumtinktur als Rezepturarzneimittel abgeraten und ist damit von der Position der ABDA abgewichen. Diese betont stets, dass wettbewerbsrechtliche Urteile nur Rechtswirkung für die Beteiligten haben. Zugleich sorgen sich Apotheker um das bedeutsame Rezeptur­privileg. Nachfolgend werden die Zusammenhänge aufgezeigt. | Von Thomas Müller-Bohn 

Opiumtinktur ist eines der ältesten noch gebräuchlichen Arzneimittel. Bis vor wenigen Jahren stand sie ausschließlich als Ware für die Rezeptur zur Verfügung, die im Arzneibuch monographiert ist und in Apotheken als Rezeptur­arzneimittel abgefüllt wird. Die Firma Maros Arznei GmbH hatte sich zum Marktführer für diese Tinktur entwickelt. Im Jahr 2018 brachte die dänische Firma Pharmanovia A/S Opiumtinktur als zugelassenes Fertigarzneimittel Dropizol® auf den deutschen Markt. In Dänemark sind Rezepturen schon lange weitgehend abgeschafft. Daher wurden dort für einige gebräuchliche ehemalige Rezepturen Zulassungen geschaffen. Nach Angaben im gemeinsamen Produktindex europäischer Zulassungsbehörden auf der Internetseite der Heads of Medicines Agencies besteht eine bibliografische Zulassung, die sich auf die gut bekannte Anwendung und die Daten in der Literatur bezieht. Diese können vor der Verfügbarkeit von Fertigarzneimitteln naturgemäß nur aus der Anwendung von Rezepturarzneimitteln entstanden sein. Dennoch entwickelte sich in Deutschland ein Rechtsstreit über die Zulässigkeit der Rezeptur zwischen Pharmanovia und Maros, zunächst nur auf der Herstellerebene. Später wurden auch einzelne Apotheken wegen der Abgabe der abgefüllten Opiumtinktur abgemahnt. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die abgefüllte Opiumtinktur ein zulassungspflichtiges Fertigarzneimittel ist und gegebenenfalls an welcher Stelle sie dazu wird. Ein zentraler Aspekt dabei ist, ob das Abfüllen als Herstellung zu betrachten ist.

Was sagen die Gerichte?

Das jüngste Urteil dazu betrifft die Herstellerebene. Das Landgericht Düsseldorf hatte am 9. Juni die an Apotheken gelieferte Opiumtinktur der Firma Maros als Fertigarzneimittel eingestuft (siehe DAZ 2021, Nr. 25, S. 14). Das Gericht hatte der Firma Maros untersagt, Opiumtinktur Ph. Eur. „als fertig hergestellte eingestellte Opiumtinktur zur Abgabe an Apotheken in Verkehr zu bringen“ oder in Verkehr bringen zu lassen (Aktenzeichen: 12 O 193/20). Für das Gericht war entscheidend, dass in der Apotheke keine weitere „Verarbeitung“ im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 AMG erfolge. Dabei geht es um die Unterscheidung zwischen einem Fertigarzneimittel und einem Zwischenprodukt. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig, weil Berufung eingelegt wurde. Inhaltlich widerspricht sie einer Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgerichtes, das Produkte auf dieser Ebene nicht als Fertigarzneimittel eingestuft hatte (Aktenzeichen: 3 U 144/19; siehe DAZ 2020, Nr. 21, S. 16). Das Hanseatische Oberlandesgericht hatte die Funktion von Bulkware gewürdigt und erklärt, bei dem Produkt dürfte es sich um ein Zwischenprodukt handeln. Von diesen Verfahren auf Herstellerebene muss das Verfahren auf Apothekenebene in Hamburg unterschieden werden (Aktenzeichen: 312 O 112/20; siehe DAZ 2021, Nr. 11, S. 20), in dem die Berufung anhängig ist. Der beklagten Apotheke und einer zuvor abgemahnten Apotheke ist daraufhin derzeit die Abgabe der abgefüllten Opiumtinktur verboten.

Brief an Apotheken – und die Reaktionen

Im Juli hat Pharmanovia einen Brief an Apotheken gerichtet und auf das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 9. Juni aufmerksam gemacht. In dem Brief erklärt Pharmanovia, bereits die Abgabe der Opiumtinktur der Firma Maros an Apotheken sei „illegal“ und das Urteil habe „mittelbar“ auch Auswirkungen auf Apotheker oder Großhändler. Auf Fragen der DAZ zu diesem Brief wollte sich Pharmanovia wegen des laufenden Verfahrens mit der Firma Maros nicht äußern. Als Reaktion auf den Brief und die weitere Entwicklung (siehe unten) meldeten sich auch DAZ-Leser und vermitteln damit ein Bild, wie dies alles in den Apotheken ankommt (siehe Leserbrief auf Seite 71). Dabei geht es insbesondere um zwei Aspekte: die Wirtschaftlichkeit der Versorgung mit Opiumtinktur und die strategischen Folgen für die Apotheken und die Versorgung.

Foto: Screenshots

Seit Jahren herrscht ein Rechtsstreit über die Zulässigkeit der Opiumtinktur als patientenindividuelle Rezeptur. Der Ausgangsstoff wird beispielsweise von der Firma Maros vertrieben (links). Opiumtinktur als Fertigarzneimittel Dropizol will dagegen das dänische Unternehmen Pharmanovia am Markt etablieren. Zunächst stritt man nur auf Herstellerebene. Später wurden auch einzelne Apotheken wegen der Abgabe der abgefüllten Opiumtinktur abgemahnt.

Rezeptur als preisgünstige Versorgung

Die Wirtschaftlichkeit ist durch den großen Preisunterschied zwischen dem Rezeptur- und dem Fertigarzneimittel ein zentraler Aspekt. Die Taxierung gemäß Hilfstaxe (Stand Februar 2021) ergibt für die Rezeptur mit 10 Gramm Opiumtinktur einen Verkaufspreis von 13,14 Euro (inklusive Mehrwertsteuer). Das Fertigarzneimittel (10 ml) hat einen Verkaufspreis von 69,83 Euro. Für 40 Gramm Rezeptur sind es 48,25 Euro im Vergleich zu 236,10 Euro für die 4er-Packung des Fertigarzneimittels. Gerade bei der rein symptomatischen Behandlung der Diarrhoe mit einem seit Jahrhunderten bekannten Arzneimittel erscheint eine Vervielfachung des Preises problematisch. Ärzte fürchten den Vorwurf unwirtschaftlich zu verordnen und es kann angenommen werden, dass die Krankenkassen an einer preisgünstigen Versorgung interessiert sind. Dies dürfte ein wesentlicher Grund sein, weshalb die Firma Maros auch Jahre nach der Einführung des Fertigarzneimittels und trotz der Rechtsstreitigkeiten die meiste Opiumtinktur in Deutschland geliefert hat.

Rezeptur dominiert bei Opiumtinktur

Nach Marktdaten von Insight health wurden im Januar 2019, also wenige Monate nach der Markteinführung, bundesweit 244 Packungen des Fertigarzneimittels umgesetzt (dabei zählen alle Packungsgrößen als jeweils eine Packung). Im Januar 2020 waren es 1366, im Januar dieses Jahres 2145 und im Juni 2593 Packungen. Das Produkt ist demnach im Markt angekommen, aber es ist zu vermuten, dass die Anbieter mehr erwartet hatten. Das legen Absatzdaten der Firma Maros nahe. Demnach habe Maros im Januar 2020 314,5 Kilogramm Opiumtinktur abgesetzt – im Vergleich zu 27,1 Kilogramm beim Fertigarzneimittel, im Januar 2021 seien es 300,7 Kilogramm bei Maros und 53,2 Kilogramm beim Fertigarzneimittel gewesen. Hinzu kommt der Absatz der Firma Caelo, die ebenfalls Opiumtinktur für die Rezeptur anbietet. Damit hatte auch Jahre nach dem Markteintritt des Fertigarzneimittels die Rezeptur den größeren Anteil an den Absätzen von Opiumtinktur. Da Opiumtinktur der Hauptumsatzträger für die Firma Maros ist, betrifft die Entwicklung das Unternehmen existenziell. Daraufhin stellt der Inhaber und Geschäftsführer Dr. Norbert Brand seine Position in seinem Gastkommentar dar (siehe unten).

Rezeptur gehört zur Apotheke

Der zweite aus Apothekerperspektive wesentliche Aspekt ist die zentrale Bedeutung der Rezeptur für das Selbstverständnis der Apotheker und für die Sicherung der Versorgung, auch in Krisensituationen. Die Rechtsstreitigkeiten beziehen sich ausschließlich auf Opiumtinktur, aber die dabei verwendeten Argumente lassen sich auf das Abfüllen anderer Arzneimittel übertragen. Sie beziehen sich auf übliche Abläufe des Apothekenbetriebs. Wenn das Abfüllen von Opiumtinktur verboten würde, könnten Verfahren zu anderen Produkten folgen. Daher erscheint verständlich, weshalb sich Apotheker um die grundsätzlichen Folgen sorgen. Das Abfüllen von Arzneimitteln im Rezepturbetrieb ist die klassische Form des Dispensierens. Durch die Einführung von medizinischem Cannabis hat sie erst in jüngerer Zeit erheblich an Bedeutung gewonnen, weil ein großer Teil dieser Versorgung auf Cannabisblüten entfällt. Außerdem bietet das Abfüllen wichtiges Potenzial für die Versorgung in Krisenzeiten. Daher bestehen viele Gründe, diese Möglichkeiten zu bewahren. Zudem bietet die Rezeptur eine wesentliche Abgrenzung der Vor-Ort-Apotheken vom Versand. Apotheker fürchten, dass jede Beschränkung der Rezeptur für die Politik ein Grund weniger wäre, die Struktur der Vor-Ort-Apotheken zu erhalten. Die Apotheker nehmen das Thema auch im Kontext zu anderen bürokratischen Einschränkungen etablierter Tätigkeiten wahr, beispielsweise bei der Herstellung von Desinfektionsmitteln und der Abgabe von Chemikalien. In allen diesen Fällen gehen klassische Funktionen der Apotheke verloren, die spätestens in Krisenzeiten vermisst werden. Es geht also nicht nur um das Selbstverständnis der Apotheker, sondern eine Aushöhlung der Rezeptur würde zumindest langfristig auch die Versorgung der Patienten gefährden.

Die Streitigkeiten zur abgefüllten Opiumtinktur sind auch im Kontext anderer Entscheidungen zu betrachten, in denen Gerichte das Rezeptur- und Defekturprivileg der Apotheken immer enger ausgelegt haben. Sie sind damit auch eine Ausprägung eines viel größeren Themas. Als Reaktion auf diese jahrelange Entwicklung hatte bereits der Deutsche Apothekertag 2018 einem Antrag des Landesapothekerverbandes (LAV) Baden-Württemberg zugestimmt und den Gesetz­geber aufgefordert, das Rezeptur- und Defekturprivileg zu stärken. Die ABDA hat das Thema in ihre Stellungnahme zum Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung einfließen lassen, der Gesetzgeber hat dies bisher nicht aufgegriffen. In der Begründung des Apothekertagsantrags hieß es: „Der geforderte Handlungsbedarf ergibt sich aus einer Reihe von verfehlten gerichtlichen Entscheidungen, welche den Anwendungsbereich der Rezeptur/Defektur in der Apotheke in bedenklicher Weise einschränken.“ Dies bezog sich insbesondere auf die enge Auslegung des Begriffes des „wesentlichen Herstellungsschrittes“ als Voraus­setzung für Defekturen. Im Fall der Opiumtinktur als Rezepturarzneimittel werden über einen anderen Argumentationsweg ebenfalls enge Voraussetzungen für die Entscheidung angelegt, ob überhaupt eine Herstellung vorliegt. So werden im Ergebnis Maßstäbe der Defektur auf die Rezeptur übertragen. Dies alles erklärt, weshalb Apotheker diese Gemengelage als bedrohlich für den Fortbestand der Arzneimittelherstellung in Apotheken wahrnehmen.

Apothekerverband Westfalen-Lippe weicht von ABDA-Linie ab

Wohl auch mit Blick auf diesen Hintergrund hat die ABDA stets betont, dass wettbewerbsrechtliche Urteile stets nur Wirkung für die jeweils unmittelbar Beteiligten des Verfahrens hätten. Ende Juli hatte die ABDA die Mitglieds­organisationen erneut darauf hingewiesen. Dennoch ist der Apothekerverband Westfalen-Lippe im Mitgliederrundschreiben „Brandneu“ vom 3. August von dieser Linie abgewichen. Dort heißt es, die Rechtslage sei „unklar und strittig“. Doch lasse sich aus unterinstanzlichen Verfahren ableiten, dass eine unveränderte Abgabe der Opiumtinktur als Rezepturarzneimittel „mit der Gefahr verbunden ist, als arzneimittelrechtlich unzulässig bewertet zu werden“. Nach dem „Vorsichtigkeitsprinzip“ sei eine prognostische Einschätzung gefragt. Darum vertrete der Verband die Auffassung, „dass nach – derzeitigem – Sach- und Erkenntnisstand nicht empfohlen werden kann, weiterhin Opiumtinktur als Rezepturarzneimittel abzugeben und abzurechnen“. Dabei räumt der Verband die „alles andere als wünschenswerten Folgen für die Apotheken, insbesondere aber auch für die Patienten“ ein.

Nach Einschätzung des Apothekerverbandes Westfalen-Lippe sei bei einer Verordnung einer Opiumtinktur-Rezeptur von einer unklaren Verordnung auszugehen. Dem Arzt seien die Bedenken in Form eines Verstoßes gegen § 21 Abs. 1 AMG, also gegen die Zulassungspflicht, mitzuteilen. Die Abgabe eines zulassungspflichtigen Arzneimittels ohne Zulassung wäre sogar strafbar. Außerdem bestehe das Risiko, wettbewerbsrechtlich in Anspruch genommen zu werden. Das Retaxationsrisiko sei jedoch wegen des großen Preisunterschiedes gering. Doch Apotheken könnten bei einer Rezepturverordnung keinesfalls das Fertigarzneimittel abgeben, weil dies nicht der Verordnung entspreche. Dann drohe eine Retaxation. Da eine Änderung durch die Apotheke nicht möglich sei, müsse der Arzt ein neues Rezept ausstellen.

Von anderen Apothekerverbänden sind solche Empfehlungen bisher nicht bekannt. Der LAV Baden-Württemberg bekräftigte auf Anfrage der DAZ die Feststellung der ABDA, „dass die entsprechenden Einzelentscheidungen nur die streitenden Parteien unmittelbar betreffen“. Weiter erklärte der Verband: „Eine Konsequenz für die Apotheken im Allgemeinen ist daraus nicht zwingend ableitbar. Hier würde nur eine höchstrichterliche Entscheidung Klarheit schaffen, die wir als LAV grundsätzlich befürworten würden.“

PZN von verschiedenen Anbietern

Zum ganzen Bild gehört auch die Verfügbarkeit des Fertigarzneimittels. Dropizol® von Pharmanovia wurde seit 2018 in Deutschland von der Innocur Pharma GmbH vertrieben. Auch Innocur hatte sich in der Vergangenheit mit Schreiben an Apotheken gewandt. Inzwischen verweist Innocur auf seiner Internetseite zu Fragen über Dropizol® auf Pharmanovia. Außerdem bietet Innocur dort eine Lieferunfähigkeitsbescheinigung für die 1er-Packung (10 ml). Die größeren Packungen seien lieferbar. Auf Anfrage der DAZ erklärte Innocur dazu, dass Pharmanovia den Distributionsvertrag für Dropizol® gekündigt habe, dies sei aber Gegenstand ­laufender Verfahren. Innocur verkaufe derzeit seine Warenbestände von Dropizol® ab.

Seit dem 1. Juli ist das Produkt in der Lauer-Taxe zusätzlich unter demselben Namen mit anderen Pharmazentralnummern und der Herstellerangabe Atnahs Pharma Nordics A/S zu finden. Ursprünglich trug der dänische Hersteller den Namen Pharmanovia. Er wurde später von der britischen, international tätigen Atnahs-Gruppe übernommen. Diese hat im Mai 2021 ein Rebranding durchgeführt und nutzt den Namen Pharmanovia nun für das ganze international tätige Unternehmen für Spezialpharmazeutika. Atnahs war 2013 als Familienunternehmen in Großbritannien gegründet worden. Inzwischen ist Pharmanovia nach eigenen Angaben mit mehr als 20 Marken in über 140 Märkten tätig und beschäftigt 200 Mitarbeiter. Es gehört seit August 2019 mehrheitlich zum Fonds Triton V des britischen Private-Equity-Unternehmens Triton.

Irritationen um Verfügbarkeit

Im jüngsten Brief von Pharmanovia an Apotheken heißt es, Dropizol® könne über Pharmanovia bestellt werden. Dazu werden die neuen Pharmazentralnummern der Atnahs Pharma Nordics A/S genannt. Die Verfügbarkeit beim Großhandel wird dort nicht angesprochen. Auf Anfrage der DAZ erklärte Pharmanovia: „Die Distribution erfolgt durch einen vollversorgenden deutschen Großhändler.“ Es habe zu keinem Zeitpunkt eine Versorgungslücke für Dropizol® gegeben. Anderslautende Informationen seien falsch, erklärte Pharmanovia. – In der vorigen Woche verliefen stichprobenweise Anfragen einer Apotheke bei drei Großhändlern nach der 1er-Packung mit der neuen Pharmazentralnummer jedoch negativ; die 10er-Packung (100 ml) war bei einem Großhändler verfügbar. Erstattungsfähig sind jedoch nur die 1er- und die 4er-Packung (10 bzw. 40 ml).

Juristische oder politische Entscheidung …

Dies alles zeigt, wie sich die aktuelle Entwicklung zur Opiumtinktur und die langfristige Sorge der Apotheker um den Bestand der Rezeptur vermischen. Auch der Apothekerverband Westfalen-Lippe erklärt in seinem Rundschreiben, dass die anstehenden Abgrenzungsfragen auch andere Arzneimittel betreffen würden, beispielsweise Cannabisblüten. Daher werde sich der Verband um eine grundlegende Lösung bemühen. Die ABDA setze sich mit dem Thema seit Längerem auseinander und habe angekündigt, im Fall einer höchstrichterlichen Entscheidung entgegen den Interessen der Apothekerschaft politisch gegensteuern zu wollen. Offenbar wird damit folgende Überlegung angedeutet: Solange der Rechtsweg offen ist, erscheinen politische Forderungen nach einer gesetzlichen Klarstellung aussichtslos. Sollte ein höchstrichterliches Urteil jedoch zu einer Einschränkung versorgungsrelevanter Strukturen führen, könnte dies gegenüber der Politik vorgebracht werden.

Damit könnte Opiumtinktur nach Jahrzehnten zum ersten Fall im Zusammenhang mit einer drohenden Beschränkung des Rezeptur- und Defekturprivilegs werden, der den Weg zu politischen Konsequenzen eröffnet. Dies würde jedoch noch Jahre dauern. Daher drängt sich die Frage auf, wie Apotheken zwischenzeitlich in den betreffenden Fällen verfahren sollen. Leserreaktionen nach der Meldung von DAZ.online über das Rundschreiben aus Westfalen-Lippe sprechen für eine selbstbewusste Haltung der Apotheken. Denn bei einer möglicherweise jahrelang bestehenden rechtlichen Unsicherheit könnte die Aufgabe einer Position vollendete Tatsachen schaffen.

… oder durch das BfArM?

Bevor die dargestellten juristischen und politischen Entwicklungen in Gang kommen, könnte allerdings der Fall der Opiumtinktur auf dem Verwaltungsweg enden. Denn die für die Überwachung der Firma Maros zuständige Regierung Oberfranken hat bereits am 20. Mai 2019 gemäß § 21 Abs. 4 AMG beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin­produkte (BfArM) beantragt, die Zulassungspflicht der Opiumtinktur zu überprüfen. Die Entscheidung steht noch immer aus. Sollte das BfArM die Zulassungspflicht negieren, wären die Rechtsunsicherheiten zur Opiumtinktur vermutlich ausgeräumt. Sollte das BfArM eine Zulassungspflicht erkennen, wäre der politische Handlungsbedarf für die Apotheker dagegen noch deutlicher zu sehen. |

Autor

Dr. Thomas Müller-Bohn, Apotheker und Dipl.-Kaufmann, DAZ-Redakteur

Wasserstandsmeldungen ohne Ende

Ein Gastkommentar

Dr. Norbert Brand, Maros Arznei GmbH

Die Briefe von Pharmanovia/Innocur nehmen kein Ende. Auch im fünften (!) Brief liest man Altbekanntes: wie z. B., die Tinctura Opii von Maros sei bereits ein Fertig­arzneimittel, aber ohne Zulassung; ihr Vertrieb und ihre Abgabe seien demzufolge illegal; alle an ihrem Vertrieb Beteiligten würden sich strafbar machen. Durch ständiges Wiederholen Brief für Brief wird das alles nicht überzeugender. Das meiste davon sind Wunschvorstellungen, die Dropizol den Weg in eine konkurrenzlose Zukunft ebnen sollen, rechtskräftig ist davon nichts. Man baut darauf, dass immer mehr bisher unerschrockene Apotheken „umfallen“ und es nicht mehr wagen, die Tinctura Opii als Rezepturarzneimittel abzugeben.

Fakt bleibt aber: Derzeit ist nur zwei Apotheken in Hamburg die Abgabe der Rezeptur per Urteil verboten. Und da einer der beiden Kollegen Berufung eingelegt hat, ist dieses Urteil noch lange nicht für die Gesamtheit aller Apotheken verbindlich. Hierfür müsste jede Apotheke einzeln verklagt werden. Das wissen auch die Anwälte von Pharmanovia: Bevor sie mühsam viele einzelne (Apotheken)Frösche stumm schalten, legen sie lieber gleich den ganzen Sumpf trocken. Der Versorger Maros muss weg.

Dummerweise ist es aber weiterhin Fakt, dass Maros mit ausdrücklicher und aktueller Duldung seiner zuständigen Überwachungsbehörden (Regierung von Oberfranken, Bundesopiumstelle im BfArM) die Tinctura Opii normata für Rezeptur­zwecke seit vielen Jahren in Verkehr bringen darf. Diese Praxis wurde in 2020 von den in diesen Fragen sehr versierten LG Hamburg und OLG Hamburg rechtskräftig bestätigt. Wer soll daher verstehen, dass es Maros mit dem jüngsten Urteil des LG Düsseldorf nun untersagt ist, die Tinctura Opii normata in Verkehr zu bringen, es sei denn, ihre stoffliche Zusammensetzung würde vor der Abgabe an Endkunden noch verändert. Dieses Urteil wirft Fragen auf. Nur selten ist den Marktbeteiligten zum Zeitpunkt der Bestellung eines Grundstoffgebindes bekannt, was am Ende konkret damit geschieht. Dem Hersteller und dem Großhändler jedenfalls nicht, und in der Apotheke können durchaus unterschiedliche Teilmengen aus ein und demselben Gebinde in unterschiedliche Anwendungen fließen. Zum Beispiel: Wird „nur“ umgefüllt? Geht es um die 1:25-Verdünnung von Opiumtinktur beim neonatalen Opioid-Entzugssyndrom? Besteht der Arzt zur Complianceförderung auf Zusatz von Sirupus simplex, Spiritus Menthae pip., o. ä. als Geschmackskorrigenz? Ist die Tinktur für eine BtM-Ausfuhr des Großhandels bestimmt?

Damit dieses Urteil nicht rechtskräftig wird, hat Maros Berufung eingelegt. Maros sieht in dem Verfahren auch die Chance, zumindest für die Rezeptur noch das zu retten, was bei den Defekturen aufgrund jüngerer Rechtsprechung mittlerweile fast unbemerkt verloren gegangen ist, nämlich die Verwendung industriell hergestellter Ausgangsstoffe ohne weitere Bearbeitung. Hier trennt die Rechtsprechung leider nicht mehr zwischen Rezeptur und Defektur. Grundsätzlich aber beginnt die Herstellung eines Rezepturarzneimittels erst, NACHDEM für einen einzelnen Patienten ein Rezept ausgestellt wurde. Defekturen und auch Fertigarzneimittel werden dagegen auf Vorrat für viele Patienten produziert, BEVOR die entsprechenden Verordnungen nach und nach ausgestellt werden. Das von den Gegnern der Rezeptur an die Wand gemalte „Gefährdungspotenzial“ für weite Teile der Volksgesundheit „durch ungeprüfte Rezepturen“ reduziert sich daher in der Praxis drastisch und im Gegensatz zu den Defekturen und Fertigarzneimitteln auf den Einzelfall. Und bei konkreten Einzelfällen kann es nicht Sinn des AMG gewesen sein, die Daseinsberechtigung einer Rezeptur – wie bei der Defektur – vom rein Handwerklichen, nämlich der „Wesentlichkeit“ einzelner Herstellungsschritte, abhängig zu machen. Vor der Abgabe des Rezepturarzneimittels sind lt. ApoBetrO 2012 von der Apotheke ein Raumkonzept und ein Hygienemonitoring vorzuhalten, der Ausgangsstoff zu prüfen, das BtM exakt einzuwiegen, die Herstellung zu dokumentieren, der Plausi-Check durchzuführen und letztendlich muss der Apotheker das Rezepturarzneimittel freigeben. Alles Aufgaben, mit anspruchsvollem, das rein Handwerkliche übersteigendem Anforderungsprofil. Dann ist es auch „unwesentlich“, wenn der Ausgangsstoff aus industrieller Herstellung stammt. Am Beispiel der Tinctura Opii bieten die beiden jetzt laufenden Berufungsverfahren die Möglichkeit, die Besonderheiten des Rezeptur„privilegs“ einem gericht­lichen Update zu unterziehen.

Letztendlich ist leider auch eines sicher: die ständigen Angriffe von Pharmanovia/Innocur richten nur Verunsicherung und Schaden an. Sie suggerieren der Ärzteschaft wie den Apotheken, man würde bei der Beschäftigung mit der Tinctura Opii vermintes Terrain betreten. Also geht man dem lieber ganz aus dem Weg und verordnet weder Fertigarzneimittel noch Rezeptur. Es ist schon jetzt der Opium-Gesamtmarkt, der Schaden nimmt. Eine Entwicklung, die bei bisher gut mit Tinctura Opii versorgten Patienten fatale Auswirkungen hätte. Darüber sollten die Briefeschreiber auch einmal nachdenken.

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