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Arzneistoffe aus, auf und unter dem Meer

Symposium der DGGP und DPhG in Kiel am 1. Juli 2023

Pharmaziegeschichte und aktuelle Forschung, militärische und zivile Nutzung: Beim diesjährigen Symposium der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie e. V. (DGGP) und der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft e. V. (DPhG) wurde ein weiter Bogen geschlagen von norddeutschen Apothekeneinrichtungen aus dem 19. Jahrhundert über die Marinepharmazie der Weltkriege bis hin zu der Suche nach innovativen Heilmitteln aus marinen Organismen oder Methoden zur Frühdiagnose, die aus der Korallenforschung stammen.

Prof. Dr. Susanne Alban (DPhG), Kathrin Bosse-Bringewatt (DGGP) und Hubertus Hug (DGGP) freuten sich als Veranstalter der akkreditierten Fortbildung über zahlreiche Interessierte. Zunächst konnten in zwei Gruppen die Dauerausstellung und Sonderausstellungen der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Christian-Albrechts-Universität mit kompetenter Führung besichtigt werden. Die Offizin einer Apotheke aus Schiffbek mit beeindruckendem Mobiliar stammt von 1894 und kann einschließlich der Rezeptur begangen werden. Die Material- und Giftkammer der Lübecker St. Jakobi-Apotheke samt Stoßkammer und Labor geht in Teilen sogar auf das Gründungsjahr 1874 zurück.

Aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammt die Klinische Bildersammlung des Chirurgen Friedrich Esmarch. Sie umfasst etwa 1000 Zeichnungen von Patienten der Kieler Chirurgischen Klinik und ihren Erkrankungen. Anhand von 39 ausgewählten Zeichnungen lässt sich nachvollziehen, was Kranksein für Menschen zu dieser Zeit bedeutete. Diese Sonderausstellung wird noch bis zum 12. November 2023 gezeigt.

Eindrücklich und berührend ist auch die Ausstellung „Female Remains. Frauenschicksale und die Vermessung der Geburt“. Sie zeichnet die Lebenswege von fünf Patientinnen der Kieler Hebammenlehr- und Gebäranstalt im 19. Jahrhundert nach und vermittelt ein anschauliches Bild vom Alltag der unverheirateten Schwangeren, die während bzw. kurz nach der Geburt dort verstarben. Ihre anatomisch verformten Beckenknochen sind Teil der geburtshilflichen Sammlung von Becken­präparaten, die in einem Vitrinenschrank ausgestellt sind.

Foto: Adexa/sjo

Vitrinenschrank mit der geburtshilflichen Sammlung von Beckenpräparaten, CAU Kiel.

Frühe Telemedizin per Funk und Enigma-Chiffrierung

Nach einer Kaffeepause stellte Flottillenapotheker Dr. Frederik Vongehr, dessen Dissertation zur „Geschichte der deutschen Marinepharmazie. 1871 – 1945“ 2014 bei der Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft Stuttgart veröffentlicht wurde, mit seltenen Fotos die pharmazeutische und medizinische Versorgung der deutschen U-Boote im Ersten und Zweiten Weltkrieg vor. Ein ernüchternder Fakt: Von 40.000 Marinesoldaten haben 30.000 ihren Einsatz nicht überlebt.

Nicht nur durch die Druckverhältnisse unterscheiden sich die Erkrankungen an Bord eines U-Bootes von anderen militärischen Einsätzen. Aufgrund der reduzierten Hygiene waren Dermatosen wie Pilzerkrankungen und Furunkel gefürchtet. Auch Verdauungsstörungen oder Zahnprobleme mussten behandelt werden. Und in den Liegezeiten an Land waren Geschlechtskrankheiten ein Risiko, dem durch eine Pflichtschutzbehandlung vorgebeugt werden sollte. Morphin war auf den U-Booten ein wichtiges Mittel. Therapieanweisungen wurden per Funk an den an Bord befindlichen Arzt oder Sanitäter durchgegeben; dabei kam auch die Verschlüsselung über die Enigma-Chiffriermaschine zum Einsatz.

Im französischen Carnac wurden im Zweiten Weltkrieg im Marineärztlichen Forschungsinstitut für U-Boot-Medizin mithilfe einer Druckkammer Untersuchungen zu psychischen Erschöpfungssymptomen durchgeführt. Diese Druckkammer wurde vor Kriegsende nach Kronshagen bei Kiel gebracht – ein „Nucleus für die Tauch- und Kompressionsmedizin“, so das Fazit des Referenten.

Foto: Adexa/sjo

Prof. Dr. Susanne Alban forscht an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Abt. Pharmazeutische Biologie.

Marine Wirkstoffe – Facts und Fiction

Schon die Griechen haben Tang zur Behandlung des Kropfes eingesetzt. Heute bieten die Ozeane ein großes Potenzial für die moderne Arzneistoffforschung und -entwicklung, denn in ihnen leben über 80 Prozent aller Organismen. Allein ein Milliliter Meerwasser enthält eine Million freie Zellen. Außerdem haben marine Organismen gegenüber den Landbewohnern rund 2,7 Milliarden Jahre evolutionären Vorsprung, so Prof. Dr. Susanne Alban. Sie haben in dieser Zeit chemische „Waffen“ mit sehr komplexen Strukturen entwickelt, die wegen der permanenten Verdünnung im Wasser hochwirksam sein müssen.

Marine Wirkstoffe zeigen antimikro­bielle und antiinflammatorische Aktivitäten, andere hemmen Tumorwachstum und -metastasierung oder be­sitzen neurologische Aktivität, zum Beispiel gegen Schlaganfall. Wieder andere beeinflussen das Hormonsystem, wirken immunstimulierend oder antidiabetisch. 2022 waren in der EU 13 Arzneimittel marinen Ursprungs zugelassen. 18 bzw. 14 bzw. sechs Wirkstoffe waren in klinischen Studien der Phase I, II bzw. III. Seit 2012 wurden vier Antibody Drug Conjugates (ADC) gegen verschiedene Tumoren zugelassen, die aus marinen Schnecken stammen.

Herausforderungen für das junge Forschungsgebiet sind laut Alban folgende Punkte: Die Organismen lassen sich (bisher) nicht kultivieren. Auch gibt es ökologische Bedenken – Stichwort Nachhaltigkeit und Biodiversität. Eine chemische Synthese ist oft nicht möglich, aber die Ausbeute aus den natürlichen Vorkommen liegt oft nur im ppm-Bereich. So werden aus 5 kg der Seescheide Ecteinascidia turbinata lediglich 50 µg des Alkaloids Trabectedin (Yondelis®) gewonnen, das unter anderem gegen das Ovarialkarzinom eingesetzt wird.

Marine Technologien für die Frühdiagnose nutzen

Den Abschluss machte Dr. Ralph Gäbler vom Geomar Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Er gab einen Überblick über BlueHealthTech-Projekte der Region zu einer besseren Behandlung chronischer Krankheiten. Die Vision sei, Erkrankungen zu erkennen und zu behandeln, bevor überhaupt Symptome auftreten.

Ein Beispiel sind Veränderungen der Isotopenverhältnisse von Calcium infolge von physiologischen Prozessen, wie man sie aus der Korallenforschung kennt. Diese Methodik wird inzwischen für Selbsttests zur Früh­diagnose von Osteoporose verwendet, die in Apotheken erhältlich sind (z. B. Osteolabs). Die Verschiebung von Isotopenverhältnissen, die auf oxidativen Prozessen beruhen, sei auch für die Früherkennung von Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurodegenerativen Erkrankungen und Krebs interessant, so Gäbler.

Daneben stehen auch marine Wirkstoffe wie ein Fucoidan aus Kieler Zuckertang gegen die altersabhängige Makuladegeneration oder marine Pilzbiotechnologien zur frühzeitigen Bekämpfung metastasierender Melanome im Fokus.

Ausblick

Für das Symposium im kommenden Jahr ist ein Besuch der Sammlungen des Medizinhistorischen Museums am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf geplant. |

Sigrid Joachimsthaler

Literaturtipp

Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Das Museum für Geschichte der Medizin und der Apotheken.

Brunswiker Straße 2, 24105 Kiel

www.med-hist.uni-kiel.de

Frederik F. Vongehr

Geschichte der Deutschen Marinepharmazie 1871 – 1945

1. Auflage kartoniert 628 Seiten 73 s/w-Abbildungen 
48,50 Euro

ISBN 978-3-8047-3317-6

WVG Stuttgart 2014

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