Welt-Alzheimertag

Chromosomen und Colibakterien – wo steht die Forschung?

Stuttgart - 21.09.2016, 12:00 Uhr

Wenn es so einfach wäre: Der Knoten im Taschentuch gegen das Vergessen. (Foto: reinhard sester / Fotolia)

Wenn es so einfach wäre: Der Knoten im Taschentuch gegen das Vergessen. (Foto: reinhard sester / Fotolia)


Noch immer ist Alzheimer nicht heilbar, die Ursachen des Vergessens sind weiterhin unklar. Eine kausale Therapie ist bislang nicht möglich. Welche Bedeutung haben Amyloid-β und hyperphosphorylierte Tau-Proteine? Wie bewerten Forscher deren Rolle?

Jedes Jahr am 21. September rückt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft die schwere, neurodegenerative Erkrankung in das Bewusstsein der Menschen. Mit „Jung und Alt bewegt Demenz“ legen die Demenzwoche und der Welt-Alzheimertag in diesem Jahr den Schwerpunkt vor allem auf das alltägliche Leben mit Demenz. 

Doch was bewegt die Forschung? 

Morbus Alzheimer, Amyloid-β und Tau werden häufig in einem Atemzug genannt. Lange Zeit galt die Amyloid-β-Hypothese als Konzentrationspunkt der Alzheimerforschung. Unlösliche Ablagerungen dieses Peptids, sogenannte Amyloid-β-Plaques, wurden zur Hauptursache der Erkrankung erklärt. Sie sollen Nervenzellen zerstören, die Signalübertragung im Gehirn einschränken und letzten Endes zur Abnahme der Hirnfunktion führen. Außerdem zeichnen sie verantwortlich für eine zweite morphologische Veränderung bei Alzheimer: Aβ-42-Oligomere hyperphosphorylierte Tauproteine, die als Bestandteil intrazellulärer Faserbündel neuronale Strukturen schädigen.

Nicht vollständig vereinbar mit der Amyloid-β-These sind allerdings Befunde bei Menschen, die solche Protein-Ablagerungen aufweisen – allerdings völlig symptomfrei sind. Diese Ergebnisse förderte die sogenannte „Nonnenstudie“ an 600 Ordensschwestern zu Tage. Auch scheint eine Lyse der aggregierten Amyloid-β-Plaques bei an Alzheimer Erkrankten nicht unweigerlich zu einer verbesserten kognitiven Symptomatik zu führen.

Gesichert ist mittlerweile eine zeitliche Latenz zwischen dem Beginn des Geschehens auf zellulärer Ebene und den ersten Symptomen, die der Patient zeigt. Somit scheint das Gehirn lange Zeit in der Lage zu sein, die degenerativen Veränderungen zu kompensieren. 

Neue Wege der Forschung – Chromosomen ...

Obwohl weltweit große Anstrengungen unternommen werden – 50.000 Wissenschaftler forschen an der Erkrankung – können Patienten, die an Alzheimer leiden, bislang nicht geheilt werden. Professor Thomas Arendt vom Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig fasst die Erfolge der Erforschung der neurodegenerativen Erkrankung als „überschaubar“ zusammen. Er begründet seine ernüchternde Einschätzung allerdings damit, dass das Gehirn bereits in seiner gesunden Funktion eine sehr komplexe Materie sei – „noch weniger wissen wir über Störungen der höheren Funktionen.“

Arendt sieht Amyloid-β nicht ursächlich für die Alzheimer-Erkrankung. Alzheimer könne möglicherweise angeboren sein und Folge einer Hirnentwicklungsstörung, ist die These des Wissenschaftlers. Er hat herausgefunden, dass bei Alzheimerpatienten die absterbenden Nervenzellen einen abnormen Chromosomengehalt aufweisen (Aneuploidie). Normalerweise werden solche Zellen bei der Differenzierung einer Stammzelle zum Neuron als falsch erkannt und in die Apoptose geschickt. Das menschliche Gehirn sei auch durchaus in der Lage, solche Strukturen bis zu einem gewissen Maß zu tolerieren. Allerdings weise das Gehirn von Alzheimer-Patienten eine doppelt so hohe Anzahl dieser aneuploiden Neurone auf wie das Gehirn gesunder Menschen. Neurone mit abnormem Chromosomensatz sind besonders anfällig für den Zelltod. Ob der Aneuploidie-basierte Untergang der Zellen allerdings Auslöser für die Erkrankung ist, ist derzeit nicht bewiesen.

Auffällig sei, dass von der Aneuploidie insbesondere Hirnregionen betroffen sind, die für höhere Funktionen verantwortlich sind. Diese unterliegen einer besonderen Dynamik und werden entsprechend häufig umgebaut. Vielleicht sei es kein Zufall, dass auch Alzheimer vorwiegend Hirnstrukturen höherer Funktionen trifft, meint Arendt. 

... und Coli-Bakterien

Arendts Einschätzung zur Rolle des Amyloids deckt sich nicht mit der von Professor Michael Heneka. Heneka forscht am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) des Universitätsklinikums Bonn und ist überzeugt, dass „Amyloid-β ein auslösender und treibender Faktor der Erkrankung“ sei. Sein Forschungsansatz knüpft Verbindungen zum Darm: Amyloid-β triggere Entzündungsreaktionen durch das Immunsystem. Ein Mechanismus, der im menschlichen Körper nicht neu ist: Coli-Bakterien im Darm bilden auf ihrer Oberfläche ebenfalls Amyloid-β und nützen dieses, um das Immunsystem zu aktivieren und bakterielle Krankheitserreger zu bekämpfen. Dieses Prinzip funktioniere im Darm – im Gehirn führten die Entzündungsmediatoren allerdings zu chronischen Entzündungsprozessen, die die Clearance von Amyloid-β hemmten. Das führe zu Funktionseinschränkungen der Neurone, erklärt der Forscher.

Nach Ansicht von Heneka ist es nicht verwunderlich, dass eine Lyse der Amyloid-β-Plaques nicht automatisch die kognitiven Leistungen dementer Patienten wieder verbessert. Hierfür müsse man zu einem früheren Zeitpunkt intervenieren. Darin scheint allerdings mit das Problem zu liegen: Patienten zeigen erste demenzielle Symptome – und suchen ärztliche Hilfe – zu einem Zeitpunkt, an dem bereits 70 Prozent der betroffenen Neurone zerstört sind.

Alzheimer-Antikörper: Ernüchternde Hoffnung?

Anfang September hatte ein Artikel in der renommierten Fachzeitschrift Nature die Alzheimer-Welt hoffnungsvoll gestimmt und auch der Amyloid-Hypothese wieder Rückenwind gegeben. Forscher aus den Vereinigten Staaten und der Schweiz stellten Ergebnisse zu einem neuen monoklonalen Antikörper vor, der wieder Amyloid als Zielstruktur hat. Aducanumab verringerte die typischen Amyloid-Ablagerungen im Gehirn bei Alzheimer-Patienten, die allerdings – und das ist das Problem – noch in einem sehr frühen Stadium der Erkrankung steckten. Wie sich dieser Lyse-Effekt auf die kognitiven Fähigkeiten der Patienten und eine Verzögerung bei Fortschreiten der Erkrankung auswirke, müssten weitere, bereits laufende Phase-3-Studien zeigen.

Würden die Ergebnisse der Studien bestätigt, wäre mit dem Amyloid-β-Antikörper ein völlig neues therapeutisches Prinzip verfügbar. Bislang ist die Therapie rein symptomatisch und konzentriert sich auf das cholinerge System. Insbesondere cholinerge Neurone sind vom Zelluntergang bei der Alzheimer-Demenz betroffen. Durch Acetylcholinesterasehemmstoffe versucht man, die defizitäre cholinerge Lage zu verbessern. Eine verminderte Progredienz der Erkrankung erreichen die Arzneimittel nicht. 

Lesen Sie am Donnerstag: Therapie-Update bei Alzheimer.

Kurz und knapp: Infobox Alzheimer

Klinische und histologische Veränderungen bei Alzheimer

Alzheimer-Demenz ist eine neurodegenerative Erkrankung und die häufigste Form der Demenz: Etwa 60 Prozent aller demenzieller Syndrome lassen sich mit Morbus Alzheimer beschreiben. Allein in Deutschland leiden derzeit 1,6 Millionen Menschen an der Alzheimer-Krankheit. Die Tendenz ist steigend: Das Alter ist ein Hauptrisikofaktor für die Erkrankung – und die Menschen werden immer älter. Zu früheren Zeiten haben Patienten ihre Demenz schlichtweg nicht erlebt.

Klinisch äußert sich die Demenz in einer abnehmenden kognitiven Leistungsfähigkeit der Patienten – Störungen des Gedächtnisses, der Konzentrationsfähigkeit und Auffassungsgabe sowie der Orientierung sind kennzeichnend. Die Patienten verändern sich auch auf ihrer persönlichen Ebene und in ihrem sozialen Verhalten. Im fortgeschrittenen Stadium können Patienten nicht länger ein selbständiges Leben führen und sind nicht mehr in der Lage, ihren Alltag eigenverantwortlich zu meistern.

Dem qualitativen Verlust der Hirnfunktion geht ein quantitativer voraus: So weisen Alzheimer-Patienten – post-mortem betrachtet – eine ausgeprägte Atrophie der Hirnmasse auf, die Hirninnenräume hingegen sind ungewöhnlich groß. Insbesondere der Frontal- und Okzipitallappen sind vom Untergang der Hirnmasse betroffen. Charakteristische Veränderungen lassen sich auch auf histologischer Ebene erkennen: Es finden sich extrazellulär die für Alzheimer typischen Amyloid-β-Ablagerungen, die als Plaques bezeichnet werden. Die Ablagerungen bilden sich aufgrund eines Ungleichgewichts bei der Produktion und der Clearance von Amyloid-β. Aβ ensteht aus einem Vorläuferprotein, dem sogenannten Amyloid-Präkursorprotein (APP). Verschiedene Sekretasen, β- und γ-Sekretase, schneiden unterschiedlich toxische β-Amyloide aus diesem Präkursorprotein. Aß-42-Oligomere zeichnen sich nun wieder verantwortlich für die zweite Veränderung auf histologischer Ebene, da sie Tau-Proteine hyperphosphorylieren. Diese sind Bestandteil intrazellulärer Neurofilamentfibrillen und führen zur Zerstörung neuronaler Strukturen.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online
redaktion@daz.online


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