BKK-Chef zu Kassen-Manipulationen

„Das BMG ist Teil des Problems – und nicht der Lösung“

Berlin - 05.01.2017, 07:00 Uhr

Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) habe einen wesentlichen Teil zur Intransparenz beim Kassenausgleich beigetragen, sagt der Chef des BKK-Dachverbands Franz Knieps. (Foto: BKK Dachverband)

Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) habe einen wesentlichen Teil zur Intransparenz beim Kassenausgleich beigetragen, sagt der Chef des BKK-Dachverbands Franz Knieps. (Foto: BKK Dachverband)


Ein schwerer Vorwurf: Kassen sollen Ärzte angestiftet haben, ihren Patienten übertriebene Diagnosen zu stellen. So können sie über den RSA-Mechanismus höhere Zuweisungen erhalten. Im Interview mit DAZ.online erhebt der Chef des BKK-Dachverbands, Franz Knieps, Vorwürfe gegenüber dem Bundesgesundheitsministerium – und fordert, dass „der Laden aufgeräumt werden muss“.  

Stimmt es, dass Krankenkassen Diagnosen unzulässig „optimieren“, um ihre Patienten auf dem Papier kränker aussehen zu lassen, als sie sind? Für die Patienten hätte dies erhebliche Auswirkungen – wie auch für andere Krankenkassen. Denn aus dem rund 200 Milliarden Euro schweren Beitragstopf erhalten sie Gelder, die von den Diagnosen ihrer Patienten mit abhängen. Der Verteilungsmechanismus nennt sich „morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich“ (Morbi-RSA) und stand in den letzten Monaten unter erheblicher Kritik.

Klar ist, dass beispielsweise die AOK Rheinland/Hamburg nachträglich Diagnosen abändern ließ, was im Normalfall auch dann unzulässig ist, wenn die Kodierungen nur korrigiert werden – für die Einstellung des Gerichtsverfahrens akzeptierte sie eine Strafe in Millionenhöhe. Und Techniker-Chef Jens Baas räumte ein, dass die Krankenkassen „ständig“ schummeln würden.

Der frühere Abteilungsleiter beim Bundesgesundheitsministerium (BMG) und jetztige Vorstand des BKK-Dachverbands trat nach 34 Jahren sogar aus der SPD aus, um ein Zeichen gegen seiner Meinung nach unzulässige Einflussnahme zu setzen. Im Interview mit DAZ.online fordert er die Bundesregierung auf, nun zu handeln – und erhebt Vorwürfe gegenüber dem Haus von Bundesgesundheitsministern Hermann Gröhe (CDU).

DAZ.online: Herr Knieps, haben auch Sie geschummelt – wie der TK-Chef es zugegeben hat?

Knieps: Ich kann mich nicht an die Seite von Herrn Baas stellen und sagen, ich schummele auch ein bisschen. Das halte ich auch nicht für förderlich für die Akzeptanz des RSA – und für zukünftige Reformen. Sehr wohl kann ich jedoch seinen Frust verstehen über das, was beim RSA passiert und wie manche Kassen das Kodier-Verhalten beeinflussen.

DAZ.online: Viele Kassen haben ja offenbar Verträge abgeschlossen, mit denen Sie Ärzte finanzielle Anreize geben, möglichst viele Diagnosen zu vergeben.

Knieps: Der BKK-Dachverband hat keine entsprechenden Verträge geschlossen, und diese auch keiner Kasse empfohlen. Ich weiß, dass einige BKKs so genannte Betreuungsstrukturverträge geschlossen haben. Die Kassen bestehen aber darauf, dass es nur um Rightcoding geht, und nicht um Upcoding.

DAZ.online: Nun hat das Bundesgesundheitsministerium offenbar ein Gutachten angefordert, um eine Basis für eine Reform des RSA zu bekommen.

Knieps: Wenn die Politik jetzt sagt, wir machen eine Generalüberholung des RSA und die nötige Evaluation hat bis zum 30. September nächsten Jahres fertig zu sein, damit sie zu den nächsten Koalitionsgesprächen vorliegt, dann ist das schon ein klares politisches Signal. Aber das BMG ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Es hat dafür gesorgt, dass die Kodier-Richtlinien, die zu meiner Zeit in das SGB V kamen, wieder gestrichen wurden. Damit hat das BMG einen ganz wesentlichen Teil zur Intransparenz geleistet und auch den Ärzten ein politisches Signal gegeben, es interessiert uns doch nicht, ob ihr richtig kodiert oder nicht. 

Lobbying zugunsten einzelner Kassen ist eine Todsünde

DAZ.online: Was sollte das Ministerium anders machen?

Knieps: Das BMG ist die Aufsicht über die Aufsicht: Es hat die Möglichkeit, dem BVA zu sagen, solche Betreuungsstrukturverträge laufen nicht. Sie haben es deshalb nicht gemacht, weil die Länderaufsichten, bei denen die AOKs angesiedelt sind, solche Verträge durchgewunken haben. Sie haben Chancengleichheit hergestellt. Aber dass sich das Ganze – vorsichtig gesagt – in einer juristischen Grauzone befindet, das wusste das BMG auch. Erst jetzt unter dem öffentlichen Druck positioniert man sich jetzt als Tugendwächter – das ist nicht so ganz glaubwürdig.

DAZ.online: Wieviel Handlungsbedarf besteht denn?

Knieps: Dass der Laden aufgeräumt werden muss, ist eine klare Sache. Aber er muss auf jeder Ebene aufgeräumt werden – es kann nicht sein, dass er auf der Bundesebene aufgeräumt wird und auf der Landesebene jeder machen kann, was er will. Es gibt eine Kleine Anfrage der Grünen über das unterschiedliche Aufsichtsverhalten der Länder. In der Antwort räumt das BMG jedes Mal ein, das es Unterschiede zwischen Bund und Ländern gebe. Folgerichtig kommt die Frage: Gibt es Änderungsbedarf? Da sagt das BMG nein – das ist ja schon ein starkes Stück. Deshalb bin ich nicht sehr optimistisch, dass der Wille da ist, dass in den Griff zu kriegen.

DAZ.online: Sie sahen wohl große Einflussnahme vonseiten einiger Kassen auf die politische Ebene – auch von der ehemaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt.

Knieps: Ja klar. Noch zu BMG-Zeiten habe ich schon immer gesagt, in manchen Ländern gehört die AOK der Landesregierung, in anderen Ländern ist es umgekehrt. Aber dass eine Einzel-AOK es schafft, einen Vorsitzenden einer großen Partei hinter sich zu bringen, dass sie es schafft, eine Ministerpräsidentin dazu zu kriegen – und letztlich auch, dass sich meine ehemalige Chefin sich in den RSA einmischt zugunsten einer Einzelkasse, das halte ich für eine Todsünde.

DAZ.online: War das tatsächlich ihr Grund, aus der SPD auszutreten?

Knieps: Ich bin nicht wegen der letzten Intervention einiger SPD-Politiker in den RSA ausgetreten, das war nur der Anlass. Das war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Manipulationen zerstören massiv Vertrauen

DAZ.online: Wie groß ist denn das Problem durch das Upcoding?

Knieps: Da mir Fachleute wie Mathematiker und Ökonomen sagen, dass das Thema Up- und Rightcoding 0,2 bis 0,3 Beitragspunkte ausmacht, ist das für mich schon ein extrem wichtiger Punkt. Alle anderen Stellschrauben, die diskutiert werden – wie Veränderungen beim Krankengeld, bei den Auslandsversicherungen oder Erwerbsminderungsrentnern – sind alles Dinge, die im jeweiligen Bereich unter 0,1 Beitragssatzpunkte liegen. Von daher ist es eine große Stellschraube im RSA.

DAZ.online: Und gleichzeitig kann es große Auswirkungen auf Patienten haben, wenn finanzielle Anreize Diagnosen verändern.

Knieps: Ja klar – wenn Krankheiten diagnostiziert werden, die gar nicht da sind. Wenn beispielsweise meine Ärztin aus meiner leichten Diabetes einen schwere macht, würde mein Vertrauen in sie massivst infrage gestellt. Wenn ich jung wäre und mir einen Zusatzversicherungsschutz bei der PKV holen wollte und es käme raus, ich hätte einen schweren Diabetes, würde ich mich eventuell noch strafbar machen oder würde den Versicherungsschutz verlieren, weil ich das nicht angegeben habe. Das sind Sachen, die gehen überhaupt nicht.

DAZ.online: Was sind denn aus Ihrer Sicht die wichtigsten Ansatzpunkte dagegen?

Knieps: Nach meiner Ansicht haben die Kassen in der Arztpraxis bei der Kodierung nichts verloren. Das sollte künftig ein rein innerärztliches Problem sein – die Kassenärztlichen Vereinigungen sind hier der richtige Ansprechpartner. Die ambulanten Diagnosen sind in einem katastrophalen Zustand, da muss sich etwas ändern. Aber ich bin nicht der Meinung, dass Kassenmitarbeiter – weder direkt angestellte noch Dienstleister – da etwas verloren haben.

DAZ.online: Kommen über die KV nicht doch auch finanzielle Fehlanreize in die Arztpraxis?

Knieps: Die KVen handeln qua Aufgabe neutraler, denn sie haben die Interessen der gesamten Ärzteschaft zu berücksichtigen. Ich bin auch dagegen, dass Kassen-bezogene Verträge mit der KV abgeschlossen werden. Das hat im Kassenwettbewerb nichts verloren.

DAZ.online: Aber falsche Anreize wird es doch immer geben, oder?

Knieps: Das weiß ich nicht: Wenn ich die ärztlichen Diagnosen aus dem RSA rausschmeiße, sind die Anreize weg. Heute beruht der RSA auf ambulanten ärztlichen Diagnosen, zweitens auf Daten der Arzneimittelversorgung, drittens auf Daten aus den Krankenhäusern. Die meisten anderen Länder, die einen RSA haben, sehen überhaupt keine ärztlichen Diagnosen vor, sondern haben in der Regel nur Daten für Arzneimittel und Krankenhäuser als Anknüpfungspunkte. Die Schweizer berücksichtigen sogar nur Krankenhäuser und minimal Arzneimittel, was kaum manipulierbar ist. Wenn ein Arzt mir als Patient mit gut eingestelltem Diabetes beispielsweise Insulin verschreibt, begeht er eine Körperverletzung. Das wäre absolut standeswidrig und meiner Ansicht nach auch strafbar. 

DAZ.online: Und die Daten würden ausreichen, um eine ausreichend gerechte Risikoabschätzung zu machen? 

Knieps: In anderen Ländern reichen die Daten aus. Das muss man für Deutschland mal berechnen. Mit den Daten, die das BVA hat, könnte man feststellen, ob sich die Qualität des RSA signifikant verändern würde. Als damals der Morbi-RSA eingeführt wurde, wurde vereinbart: Wir prüfen, ob die ärztlichen Diagnosen überhaupt reinpassen. Es war schon damals nicht unumstritten. Wenn die Politik ernst nimmt, was im Moment läuft, wird sie sich Gedanken machen müssen, mit welchen Instrumentarien sie dieser Beeinflussung entgegentreten will. Nur mit dem Zeigefinger drohen und dem „Ihr dürft das nicht“ läuft das nicht.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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