Verordnung für den Praxisbedarf

Wie weit geht das Rezeptur- und Defekturprivileg der Apotheken?

Berlin - 24.04.2017, 14:00 Uhr

 Wie viele Spritzen – und für wen – darf eine Apotheke ohne besondere Zulassung anfertigen? (Foto: Svetlana Anikina / Fotolia)

Wie viele Spritzen – und für wen – darf eine Apotheke ohne besondere Zulassung anfertigen? (Foto: Svetlana Anikina / Fotolia)


Grundsätzlich können im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebes Rezeptur- und Defekturarzneimittel hergestellt werden – und zwar ohne gesonderte Erlaubnis. Doch gilt die Erlaubnisfreiheit auch, wenn die Herstellung nicht aufgrund patientenindividueller Verordnung sondern für den Praxisbedarf erfolgt? Ein aktuelles Urteil aus Schleswig- Holstein verneint dies.

Das Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein hat kürzlich entschieden, dass eine Apotheke Rezeptur- und Defekturarzneimittel nicht ohne Herstellungserlaubnis (§ 13 Abs. 1 AMG) herstellen und auch nicht ohne Zulassung (§ 21 Abs. 1 AMG) in den Verkehr bringen darf, wenn die Herstellung nicht aufgrund patientenindividueller Verschreibung und „in Patientenportion“ erfolgt, sondern aufgrund ärztlicher Verschreibung für den Praxisbedarf.

Was war geschehen? Ein Apotheker hatte gegen eine 2014 erlassene Ordnungsverfügung seiner Aufsichtsbehörde, dem Landesamt für soziale Dienste, geklagt. Zum einen beanstandete dieses, dass der Apotheker in seiner Apotheke das Arzneimittel „Fluorescein-​Na (Inj.) 10 %“ zur Fluoreszens-​Angiographie herstellt – und zwar auf Grundlage von Sprechstundenbedarf-​Rezepten. Mit diesen fordern Augenärzte 64 Arzneimittelportionen für Fluorescein-​Na-​Lösung zur Angiographie in 64 sterilen Einmalspritzen an. Eine patientenindividuelle Verordnung gab es also nicht. Der Apotheker fertigte bis zu 100 solcher Spritzentrays à 64 Spritzen am Tag an. Die Behörde vertrat die Auffassung, dass es sich hierbei nicht um Rezeptur-, sondern um Defekturarzneimittel handele, für die die vorgeschriebenen Qualitätskontrollen nicht durchgeführt worden seien.

Mit gleicher Begründung untersagte das Landesamt die Herstellung und das Inverkehrbringen verschiedener Darmspülpulvermischungen zur Vorbereitung der Koloskopie in Packungseinheiten für mehr als einen Patienten. Ein Verordnung umfasst hier eine Menge, aus der der Apotheker 108 Patientenportionen fertigt, die aus jeweils zwei oder vier einzelnen Beuteln besteht. Für eines der Darmspülpulver (M) erhält der Apotheker regelmäßig Verschreibungen mit dem Vermerk „für den Praxisbedarf“ oder „ad manu medici“. Dieses stellt er im Voraus in einer Menge von bis zu fünf Packungen mit jeweils 108 Patientenportionen her. Auch hier sah das Landesamt die zulässige Höchstmenge für Defekturarzneimittel überschritten.

Gegen die Ordnungsverfügung ging der Apotheker vor. Nach erfolglosem Widerspruch zog er vor das Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein – doch dieses wies seine Klage ab.

Bei Rezepturarzneimitteln muss der Patient bekannt sein

Das Gericht führt in seinem Urteil aus, bei „Fluorescein-Na (Inj.) 10 %“ handle es sich im Umfang der tatsächlichen Herstellung nicht um ein Arzneimittel, das „im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs“ hergestellt werde und damit keiner Herstellungserlaubnis bedürfe. Ein Rezepturarzneimittel sei es nicht, weil die Verschreibung nicht für einen bestimmten Patienten ausgestellt ist. Dazu heißt es im Urteil: „In Abgrenzung zum Fertigarzneimittel im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AMG zeichnen sich Rezepturarzneimittel durch die Patientenindividualität der Herstellung aus. Wesentliches Kennzeichen des Rezepturarzneimittels ist es, dass der Empfänger des herzustellenden Arzneimittels schon bei Beginn des Herstellungsvorgangs bekannt ist“.

Eine Auslegung des Begriffs „Rezepturarzneimittel“ dahingehend, dass die Herstellung aufgrund einer Verschreibung „für den Praxisbedarf“ oder „ad manu medici“ für eine Mehrzahl noch nicht feststehender Patienten erfolgen könne, widerspreche dem Zweck der gesetzlichen Regelung des § 13 Abs. 2 Nr. 1 AMG, der Apotheken bei der Herstellung privilegiert. „Diese Privilegierung verlangt, um Missbrauch zu vermeiden, eine restriktive Anwendung auf klar umgrenzte Ausnahmefälle“, so die Richter. Die für Rezepturarzneimittel bestehenden Abgrenzungsmerkmale der nicht im Voraus erfolgenden Herstellung und der Patientenindividualität dürften nicht durch von den Ärzten erfolgende Verschreibungen „für den Praxisbedarf“ aufgegeben und in das Belieben der verschreibenden Ärzte überführt werden.  

Auszug aus dem Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz - AMG)

§ 13 Herstellungserlaubnis

(1) Wer

1. Arzneimittel im Sinne des § 2 Absatz 1 oder Absatz 2 Nummer 1,

2. Testsera oder Testantigene,

3. Wirkstoffe, die menschlicher, tierischer oder mikrobieller Herkunft sind oder die auf gentechnischem Wege hergestellt werden, oder

4.  andere zur Arzneimittelherstellung bestimmte Stoffe menschlicher Herkunft

gewerbs- oder berufsmäßig herstellt, bedarf einer Erlaubnis der zuständigen Behörde. (…)

 (2) Einer Erlaubnis nach Absatz 1 bedarf nicht

1. der Inhaber einer Apotheke für die Herstellung von Arzneimitteln im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs, oder für die Rekonstitution oder das Abpacken einschließlich der Kennzeichnung von Arzneimitteln, die zur klinischen Prüfung bestimmt sind, sofern dies dem Prüfplan entspricht,

(…)

Europarechtskonforme Auslegung

Das Gericht sieht in der weiten Auslegung des Begriffes Rezepturarzneimittel einen Verstoß gegen den europäischen Humanarzneimittelkodex (Richtlinie 2001/83/EG). Denn soweit sich aus dem Wortlaut der Definition für ein Rezepturarzneimittel nach § 1a Abs. 8 ApoBetrO nicht unmittelbar ergebe, dass die Person des Patienten zu Herstellungsbeginn bekannt sein müsse, folge dies aus der gebotenen europarechtskonforme Auslegung dieser Vorschrift. Denn dem Rezepturarzneimittel nach der Apothekenbetriebsordnung entspreche die Definition der Ausnahme nach Art. 3 Nr. 1 der Richtlinie 2001/83/EG: Arzneimittel, die in einer Apotheke nach ärztlicher Verschreibung für einen bestimmten Patienten zubereitet werden (sog. formula magistralis). Eine Auslegung in der Weise, dass der Arzt mit der Verschreibung „für den Praxisbedarf“ als „Patient“ im Sinne der Vorschrift gelten könne, sei mit dem Wortlaut unvereinbar, so das Verwaltungsgericht.

Zu viel für die Defektur – Arzt ist nicht „Verbraucher”

Auch als zulassungsbefreites Defekturarzneimittel lässt das Gericht die Spritzen nicht gelten. Denn mit dem Begriff der „abgabefertigen Packung“ sei, wie sich aus dem Zweck der Privilegierung der Arzneimittelherstellung in Apotheken ergebe, eine Patientenportion gemeint. Die mengenmäßige Begrenzung diene der Abgrenzung zur Serienherstellung von Fertigarzeneimitteln, Abgabefertige Packungen seien solche, die zur Abgabe an den Verbraucher bestimmt seien, nicht aber überdimensionierte Klinikpackungen. Es bestehe auch keine Notwendigkeit, den für seinen Praxisbedarf verschreibenden Arzt in diesem Sinne als Verbraucher anzusehen. Denn der Praxisbedarf lasse sich mit einer Begrenzung der täglichen Herstellung auf 100 Patientenportionen decken.

Außerdem verweist das Verwaltungsgericht auf eine recht frische Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 26. Oktober 2016: Danach steht die für Defekturarzneimittel geltende Hunderterregel mit dem Humanarzneimittelkodex insoweit in Einklang, als Defekturarzneimittel, die im Rahmen dieser Mengenbegrenzung hergestellt werden, nicht als gewerblich oder unter Anwendung eines industriellen Verfahrens zubereitet anzusehen sind. Sie fallen damit nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie. Die Hunderterregel, so das Verwaltungsgericht, diene demnach der Abgrenzung der handwerklichen Herstellung von Arzneimitteln in Kleinstmengen von der industriellen Arzneimittelherstellung. Die Herstellung behalte aber nur den handwerklichen Charakter, wenn die hergestellten Mengen auch hinsichtlich der abgabefertigen Einheiten in einem klar umgrenzten Rahmen blieben. Eine klare Abgrenzung der erlaubnisfrei herstellbaren Mengen lasse sich im vorliegenden Fall nur durch die Begrenzung der abgabefertigen Einheit auf einen Patienten erreichen. Ein „Indiz“ für eine nicht mehr handwerkliche, sondern bereits industrielle Herstellung von „Fluorescein-Na (Inj.) 10 %“ sei im übrigen, dass die Apotheke des Klägers für die Befüllung der 64 Einmalglasfertigspritzen auf den Spritzentrays besondere Apparaturen benötige.

Bei den Darmspülpulvern sieht das Gericht  die für Defekturarzneimittel geltende Grenze von einhundert abgabefertigen Packungen pro Tag ebenfalls überschritten. Denn nach seiner Auffassung bilden jeweils nur zwei beziehungsweise vier Beutel eine Patientenportion und damit eine abgabefertige Packung – nicht aber eine Packung für die Arztpraxis, die aus zwei oder vier Mal 108 Beuteln besteht.  

Medizinrechts-Expertin widerspricht

Die Kölner Rechtsanwältin und Medizinrechts-Expertin Dr. Sabine Wesser hält das Urteil aus Schleswig-Holstein nicht für überzeugend. Sie verweist auf die Gründe für die gesetzliche Privilegierung von in Apotheken hergestellten Rezeptur- und Defekturarzneimitteln. Diese beruhe zum einen darauf, dass diese Arzneimittel nicht für den Handel, also für den Weitervertrieb durch den Großhandel hergestellt werden, sondern zur Abgabe für den Endverbrauch, also für bestimmte  Verbraucher. Eine unabsehbare Massenverbreitung scheide somit aus. Verbraucher im Sinne des Arzneimittelgesetzes sei unstreitig aber nicht nur der Patient, sondern auch zum Beispiel der Arzt, der für seinen Praxisbedarf ein Arzneimittel verschreibt oder an seinen Patienten anwendet.

Ein weiterer Grund der Privilegierung sei, dass die Anfertigung von Rezeptur- und Defekturarzneimitteln regelmäßig unter der Verantwortung zweier Spezialisten erfolge: So zeichne der Arzt  verantwortlich für die Wirksamkeit und Vertretbarkeit in therapeutischer Hinsicht und der Apotheker für die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in pharmazeutischer Hinsicht. Auch diese Doppelkontrolle rechtfertige, für das Herstellen und Inverkehrbringen von Rezeptur- und Defekturarzneimitteln  nicht auch noch eine behördliche Erlaubnis und Zulassung zu verlangen.

Verschreibungsbegrenzung nur bei BtM

Wesser teilt daher nicht die Auffassung, Ärzte dürften Arzneimittel nur „in Patientenportionen“ als Rezepturarzneimittel verschreiben und „abgabefertig“ im Sinne des § 21 Abs. 2 Nr. 1 AMG sei nur eine Packung, die zur Abgabe an den Verbraucher „Patient“ bestimmt ist. Eine Beschränkung des Arztes bezüglich der Menge des von ihm verschriebenen Arzneimittels kenne das Gesetz nur bei Betäubungsmitteln. Apotheken seien nach der Apothekenbetriebsordnung verpflichtet, ärztliche Verschreibungen auszuführen – und zwar so, dass die abgegebenen Arzneimittel den Verschreibungen entsprechen, gleich, ob der Arzt sie für einen bestimmten Patienten oder für seinen Praxisbedarf ausgestellt hat.

Eine richtlinienkonforme Auslegung hält Wesser ebenfalls nicht für geboten, weil sich aus der genannten Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 26. Oktober 2016 ergebe, dass die Richtlinie 2001/83/EG auf in Apotheken defekturmäßig, d.h. in einem handwerklichen Verfahren und in durch die Hunderterregel begrenzter Menge hergestellte und nicht für den Verkauf im Großhandel bestimmte Arzneimittel gar keine Anwendung findet, weil sie nicht im Sinne des Art. 2 der Richtlinie „gewerblich oder unter Anwendung eine industriellen Verfahrens zubereitet“ seien.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Man darf gespannt, ob und wie sich die zugrundeliegenden Rechtsfragen klären werden.

Urteil des Verwaltungsgerichts Schleswig-Holstein vom 16. März 2017, Az.: 1 A 123/14



Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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