Gender Medicine

Wirken Herz-Kreislauf-Medikamente unterschiedlich bei Frauen und Männern?

Remagen - 30.06.2017, 10:40 Uhr

Unterschiedliche Wirkung bei Frauen und Männern? Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie fordert Dosisanpassungen für Frauen bei Herz-Kreislauf-Medikamenten. (Foto: nikavera / fotolia)

Unterschiedliche Wirkung bei Frauen und Männern? Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie fordert Dosisanpassungen für Frauen bei Herz-Kreislauf-Medikamenten. (Foto: nikavera / fotolia)


Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie fordert in einem Positionspapier eine Dosisanpassung bei Herz-Kreislauf-Medikamenten für Frauen. Damit sollen deren Nebenwirkungen bei den Patientinnen reduziert werden.

Nach Expertenmeinungen wird die geschlechtsspezifische Medizin (Gender Medicine) in der modernen Arzneimitteltherapie noch viel zu wenig berücksichtigt. Dies gilt unter anderem für das Gebiet der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dabei sind die Unterschiede hierbei schon recht gut bekannt. Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) hat in der Juni-Ausgabe des “European Heart Journal - Cardiovascular Pharmacotherapy“ ein neues Positionspapier bekannt gemacht, dass speziell auf die Risiken von Über- und Untertherapien bei Frauen abhebt. Es beschreibt die Unterschiede zwischen Frauen und Männern in Bezug auf Herz-Kreislauf-Medikamente und gibt Empfehlungen, wie die Behandlung von Frauen verbessert werden kann.

Vieles ist anders

Als wichtige Aspekte werden in dem Papier die folgenden genannt:

  • Frauen haben ein größeres Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen als Männer, weil sie länger leben.
  • Die Empfehlungen für die Verwendung von Herz-Kreislauf-Medikamenten basieren auf klinischen Studien, die an Männern im mittleren Lebensalter erhoben wurden.
  • Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind bei Frauen schwerer und häufiger als bei Männern.
  • Frauen bekommen seltener vorbeugende Therapien und werden weniger aggressiv behandelt als Männer.
  • Die Absorption, Verteilung, Metabolisierung und Ausscheidung von Arzneimitteln läuft bei Frauen anders als bei Männern.

Häufiger schwere Nebenwirkungen

Sorgen bereiten den europäischen Kardiologen vor allem die größeren Sicherheitsrisiken bei Frauen. Nebenwirkungen von Herz-Kreislauf-Medikamenten träten bei weiblichen Patienten 1,5- bis 1,7-mal häufiger auf. Sie seien in der Regel schwerwiegender als bei Männern und führten öfter zur Einweisung ins Krankenhaus. Zum Beispiel hätten Frauen ein höheres Risiko für Arzneimittel-induzierte Torsades de Pointes (abnorme Herzrhythmen, die zum plötzlichen Herztod führen können) und schwere Blutungen. Bei älteren Frauen mit niedrigem Körpergewicht sei die Statin-induzierte Myopathie häufiger.

Die gleiche Dosis für jeden?

„Frauen haben mehr Nebenwirkungen, weil für viele Medikamente die gleiche Dosis für jeden empfohlen wird, unabhängig vom Körpergewicht.“ So begründet der Erstautor des Positionspapiers Juan Tamargo, Direktor der Forschungsgruppe für Herz-Kreislauf-Pharmakologie an der Universidad Complutense in Madrid, dieses Phänomen. „Dies kann bei den Patientinnen zu höheren Plasma-Spiegeln und zu Überdosierungen führen." Tamargo befürchtet: „Wenn die Frauen wegen der stärkeren Nebenwirkungen ihre vorbeugenden Medikamente absetzen, sind sie trotz ihres höheren Risikos ohne Schutz.“

Das Beispiel Acetylsalicylsäure

Die europäische Kardiologen-Gesellschaft verweist an dieser Stelle auf geschlechtsbezogene Unterschiede in der Pharmakokinetik einiger breit eingesetzter Herz-Kreislaufmittel. Beispielsweise seien die Bioverfügbarkeit und die Plasmaspiegel von Acetylsalicylsäure bei Frauen höher als bei Männern, möglicherweise bedingt durch eine geringere Aktivität des Enzyms ASS-Esterase sowie eine größere Distribution und niedrigere Clearance des Wirkstoffs. Tamargo beklagt, dass es für solche Mittel keine Gender-bezogenen Empfehlungen im Label gibt, nicht einmal dann, wenn der Unterschied in der Pharmakokinetik zwischen Männern und Frauen bei mehr als 40 Prozent liegt.

Geschlechtsspezifische Unterschiede seien auch hinsichtlich der Pharmakodynamik bekannt. So sei die Schutzwirkung von Acetylsalicylsäure bei Frauen gegen Schlaganfall stärker und bei Männern gegen Herzinfarkt. ASS sei aktiver gegenüber männlichen Thrombozyten und ASS-Resistenz häufiger bei Frauen.

Männliche Ärzte veschreiben Frauen weniger

Die europäischen Kardiologen wollen mit dem Positionspapier auch die Ärzte stärker in die Pflicht nehmen. Dabei geht es nicht nur um Überdosierungen. „Männliche Ärzte verschreiben die empfohlenen Medikamente bei weiblichen Patienten weniger häufig“, bemängelt Tamargo. „Einige denken, Herz-Kreislauferkrankungen seien für Frauen kein echtes Problem, weil sie durch Sexualhormone geschützt sind. Dabei vergessen sie, dass dies mit zunehmendem Alter verschwindet und dass Frauen länger leben als Männer.“

Geschlechtsspezifische Leitlinien gefordert

Das Papier empfiehlt nun, für Herz-Kreislauf-Medikamente geschlechtsspezifische Leitlinien zu entwickeln und umzusetzen. Für die Gebrauchsinformationen werden Gender-spezifische Dosierungsangaben gefordert. Frauen sollen in klinische Studien mit Herz-Kreislauf-Medikamenten eingebunden werden. Außerdem sollen die Ärzte über Geschlechtsunterschiede in der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Herz-Kreislauf-Medikamenten besser ausgebildet werden.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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