Urteil des Bundesverfassungsgerichtes

60-jähriges Jubiläum der Niederlassungsfreiheit

Stuttgart - 11.05.2018, 17:00 Uhr

Seit 60 Jahren herrscht in Deutschland  Niederlassungsfreiheit für Apotheker. (Foto: digital-designer - stock.adobe.com)

Seit 60 Jahren herrscht in Deutschland  Niederlassungsfreiheit für Apotheker. (Foto: digital-designer - stock.adobe.com)


Heute vor 60 Jahren verkündete das Bundesverfassungsgericht ein Urteil, das auch in den heutigen Diskussionen rund um den Apothekenmarkt immer wieder zitiert wird. Es geht um die Niederlassungsfreiheit im deutschen Apothekenwesen. Das „Apotheken-Urteil“ definierte erstmals, inwiefern der Staat in die Berufsfreiheit seiner Bürger eingreifen darf. Doch ist die Niederlassungsfreiheit noch zeitgemäß? Oder sollten Apotheken wieder nach Bedarf zwischen Stadt und Land verteilt werden?

Als sich Karl-Heinz Röber mit knapp 40 Jahren entschließt, seine persönliche und berufliche Freiheit in der Bundesrepublik zu finden, hat er bereits ein bewegtes Leben hinter sich: Geboren 1915 im Ersten Weltkrieg, muss er als Kind und Jugendlicher die turbulenten Zeiten der 1920er-Jahren und des Dritten Reiches miterleben. Nach dem Pharmaziestudium und der Approbation 1940 arbeitet er als angestellter Apotheker in Sachsen. Ab 1945 verwaltet er für fast zehn Jahre die Markt-Apotheke in Oelsnitz. Doch mit der „verstaatlichten Pharmazie“ in der DDR kann und will sich Röber nicht anfreunden. Er flüchtet nach Bayern. „Und da haben wir uns aufs Fahrrad gesetzt, um uns einen schönen Ort auszusuchen“, erzählt er später. „Und in Traunstein haben wir auch ein Haus gefunden, da wollten wir unsere Apotheke eröffnen, mit dem Eigentümer des Hauses waren wir schon handelseinig.“

Bedürfnisplanung in Bayern

Doch die oberbayerischen Behörden durchkreuzen die ambitionierten Pläne des Sachsen. Das damals geltende Bayerische Apothekengesetz sieht nämlich vor, dass eine neue Apotheke nur errichtet werden darf, wenn ihre wirtschaftliche Grundlage gesichert ist und die benachbarten Apotheken in ihrem Betrieb nicht beeinträchtigt werden. Man fürchtet die Konkurrenz und den Wettbewerb zwischen Apotheken – und das nicht nur in Bayern, sondern zur damaligen Zeit in vielen deutschen Städten und Kommunen. Es könne nicht im öffentlichen Interesse liegen, wenn wirtschaftlich schlecht fundierte Apotheken die Bevölkerung zu einem leichtfertigen Medikamentenverkauf verleiten. Konkret sieht das Gesetz vor, dass im Umfeld einer Apotheke etwa 7.000 Einwohner leben müssen. Und im Stadtteil Traunreut, wo Röber seine Apotheke eröffnen will, gibt es 6.000 Menschen und bereits eine Apotheke. 

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Das strenge und jahrhundertealte System der Personalkonzessionen hat sich nach Ansicht des Gesetzgebers und der Behörden bewährt und soll die „Volksgesundheit“ schützen. Darüber hinaus sind die Approbation und eine Apothekenbetriebserlaubnis nötig. Karl-Heinz Röber ist skeptisch und fühlt sich in seinem Grundrecht auf freie Berufswahl zu sehr eingeschränkt: „Und da hab‘ ich mir das Grundgesetz gekauft  –  so ein kleines rotes Bändchen – und hab den Artikel 12 über die Berufsfreiheit gelesen und mir gesagt: Das kann man aber auch ganz anders verstehen.“

Klage in Karlsruhe

Auf dem Rechtsweg geht Röber gegen die Ablehnungsbescheide der Regierung vor und reicht schließlich eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Die Standesvertretung der westdeutschen Apothekerschaft ist beunruhigt. Man fürchtet, dass Apotheken sich allmählich zu amerikanischen Drugstores verändern. Werden die Verfassungsrichter das Konzessionssystem kippen und die Niederlassungsfreiheit in Deutschland einführen? Bis zur Urteilsverkündung sorgt das Thema für Schlagzeilen. „Die Zeit“ titelt am 24. April 1958 „Röber rüttelt an der deutschen Apotheke“ und macht deutlich, dass hinter der Klage keine Organisation oder ein Strohmann steckt, sondern „der kleine Apotheker“ Röber.

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Am 11. Juni 1958 erklärt der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts das Bayerische Apothekengesetz für nichtig. In der Urteilsbegründung machen die Richter deutlich, dass der Staat die Berufsfreiheit seiner Bürger nicht unverhältnismäßig einschränken dürfe. Auf das deutsche Apothekenwesen hat das Urteil eine immense Signalwirkung. Die Entwürfe für das erste Bundesapothekengesetz müssen umformuliert werden. 1960 tritt es erstmalig in Kraft und gilt seitdem für alle deutschen Bundesländer. Neben den persönlichen Voraussetzungen des Antragsstellers sind seitdem nur die Approbation und der Nachweis erforderlich, dass die nach der Apothekenbetriebsordnung vorgeschriebenen Räume vorhanden sind. Eine staatliche Lizenz und damit Beschränkung der Niederlassungsfreiheit existiert nicht mehr.

Das Urteil und die Folgen

Karl-Heinz Röbers Erfolg vor Gericht führte zu einem Systemwechsel in der bundesdeutschen Apothekenlandschaft und zu einem Grundsatzurteil, das Juristen im Hinblick auf die Berufsfreiheit schon früh im Studium kennenlernen. Doch mit der Berechtigung zur Errichtung einer Apotheke in der Traunreuter Bahnhofstraße konnte Röber erstmal nichts anfangen: Das Geld für die Eröffnung war ihm zwischenzeitlich abhandengekommen. Er arbeitete noch zehn Jahre als Angestellter in Rosenheim, bis er sich mit der Zugspitz-Apotheke in Garmisch selbstständig machte. Zeitlebens war er stolz auf „sein Urteil“ und erlangte dadurch eine gewisse Berühmtheit.

Wie ist die Niederlassungsfreiheit aus heutiger Sicht zu deuten? Hat sie sich bewährt oder braucht es ein System, das den „Apothekenbedarf“ ermittelt und für eine Verteilung zwischen Stadt und Land sorgt. In der Ausgabe 19/2018 der DAZ wird das „Apotheken-Urteil“ unter die Lupe genommen.



Dr. Armin Edalat, Apotheker, Chefredakteur DAZ
redaktion@deutsche-apotheker-zeitung.de


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