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Zwölf Jahre Haft für Peter S.
„Sie haben die Apotheke in eine kriminelle Einrichtung verwandelt“
Der Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. wurde wegen Unterdosierung von rund 14.500 Krebsmitteln und Betrugs in Höhe von 17 Millionen Euro vom Landgericht Essen zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Nach dem Urteil darf er nie wieder als Apotheker arbeiten. Der Vorsitzende Richter richtete sehr persönliche Worte an den Angeklagten – wie auch an die Patienten, die von ihm beliefert wurden.
Im Prozess gegen den Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. sprach das Landgericht Essen am heutigen Freitag sein Urteil: Zwölf Jahre Haft für den Pharmazeuten. Es sieht ihn als schuldig an, in rund 14.500 Fällen Arzneimittel hergestellt und in Verkehr gebracht zu haben, deren Qualität gemindert und gefälscht waren. Außerdem sieht es das Gericht als erwiesen an, dass S. in den Jahren von 2012 bis 2016 durch Abrechnung der inkorrekten Krebsmittel die gesetzlichen Krankenkassen um rund 17 Millionen Euro betrogen hat. Überdies soll S. nie wieder als Pharmazeut arbeiten dürfen. „Dem Angeklagten wird für immer verboten, den Beruf des Apothekers auszuüben“, sagte der Vorsitzende Richter Johannes Hidding.
Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft – wie auch viele Nebenkläger – eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13,5 Jahren gefordert, während die Verteidiger auf Freispruch plädierten. Die Anklage lautete auf fehlerhafte Herstellung von knapp 62.000 Krebsmitteln, Betrug in Höhe von rund 56 Millionen Euro und versuchter Körperverletzung in 27 Fällen.
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In ausführlichen Erläuterungen ging Hidding zunächst auf den immer wieder aus der Öffentlichkeit erhobenen Vorwurf ein, es würde bei dem Verfahren nur um den Betrug an den Krankenkassen gehen – und nicht um das Schicksal der Patienten. Da kein Patient und kein Arzt als Zeuge vernommen wurde, könne er die Kritik am Vorgehen der 21. Wirtschaftsstrafkammer nachvollziehen – doch sei der Patientenschutz keine Randfrage, sondern „Kern des Verfahrens“ gewesen. Da ursächliche Schädigungen wie auch Tötungsdelikte durch Arzneimittel oft schwer beweisbar seien, würde das Arzneimittelgesetz als „Rettungsanker“ eine Verurteilung auch wegen fehlerhaft zubereiteter Medikamente erlauben.
Anders als die Staatsanwaltschaft errechnete das Gericht aufgrund der Menge der eingekauften und verkauften Wirkstoffe bei wie vielen Herstellungen S. mindestens unterdosiert haben müsste. Dabei kam es auf die Zahl von rund 14.500. Die versuchte Körperverletzung durch unterdosierte Medikamente, die am Tag der Razzia sichergestellt wurden, sah es nicht als erwiesen an, da diese noch nicht zur Abholung freigegeben waren.
Laut Zeugenaussage hat S. in etlichen Fällen ohne
Schutzkleidung im Reinraumlabor gearbeitet. „Das allein ist allerdings nichts
strafbar“, erklärte Hidding. Hinzukommen müsste, dass die Qualität der
hergestellten Arzneimittel gemindert war. Dies könne das Gericht nicht ausschließen,
aber auch nicht sicher feststellen.
„Feine Risse“ im Lebensweg von Peter S.
Der Richter zeichnete den Weg des Apothekers nach: Auf die
Idee, ein Zyto-Labor einzurichten, hätte ihn die frühere Tätigkeit in einer
Bundeswehrapotheke gebracht. Seine Apotheke habe er „erfolgreich“ mit hohen
Umsätzen geführt und im November 2016 rund 90 Mitarbeiter gehabt. Auch sonst
sei er in Bottrop sehr aktiv gewesen – beispielsweise auch bei einem Hospiz-Verein,
den er unterstützte. Privat habe er sich ein großes Haus mit Pool gebaut.
Doch es habe „feine Risse“ gegeben, die einigen Mitarbeitern aufgefallen seien – so die Arbeit ohne Schutzkleidung im Reinraumlabor. Eine Anzeige, in der schon 2013 Unterdosierungen thematisiert wurden, sei leider als unglaubwürdig abgetan worden. Doch zwei Mitarbeiter von S. hätten die Gerüchte nicht hingenommen, dass man Arzneimittelzubereitungen aus der eigenen Apotheke nicht trauen könnte und Freunde besser aus anderen Apotheken versorgt werden sollten. „Martin Porwoll entschloss sich, nicht wegzuhören, sondern den Gerüchten auf den Grund zu gehen“, sagte Hidding über den früheren kaufmännischen Leiter. Die PTA Marie K., die zeitweise in dem Zytolabor arbeitete, brachte später einen Infusionsbeutel zur Polizei, der keinerlei Wirkstoff enthielt – und brachte die Ermittlungen so mit ins Rollen.
Keine Zweifel an Analysen
Für 66 von 117 bei der Razzia sichergestellten Krebsmitteln hätten Untersuchungen des Paul-Ehrlich-Instituts und des Landeszentrums Gesundheit „schwarz auf weiß“ festgestellt, dass es Unterdosierungen gab. Zwar gab es Kritik an der Analyse-Dokumentation der Behörden, doch seien derartige Fehler in den vielen Metern Akten nicht schwerwiegend. „Jede Zubereitung ist mehrfach untersucht worden, teils mit unterschiedlichen Verfahren – die Ergebnisse waren stets identisch“, sagte der Richter.
Um zu
ermitteln, wie viele unterdosierte Krebsmittel im Zeitraum von 2012 bis 2016 in
der Apotheke hergestellt wurden, griffen die Richter zum Taschenrechner. Anhand
der Menge der ein- und verkauften Wirkstoffe errechneten sie, wie viele
Herstellungen mindestens minderwertig gewesen sein mussten. Dabei
berücksichtigten sie laut Hidding alle möglichen Fehlerquellen im Sinne des
Angeklagten. Was das Gericht jedoch nicht glaubte ist, dass es geheimnisvolle
Verkäufer von Krebsmitteln gab, die in Parkhäusern Zytostatika an S.
verkauften, wie die Verteidigung erklärt hatte. Dafür gebe es keine Anhaltspunkte.
Zyto-Zubereitung ist „keine Operation am offenen Herzen“
Doch ist S. überhaupt verantwortlich? Das Gericht ist einerseits davon überzeugt, dass der Apotheker über Jahre einen guten Teil der unterdosierten Arzneimittel selbst hergestellt hat. „Es lag in seinem kriminellen Interesse, unterdosiert herzustellen“, sagte Hidding. Doch sei andererseits nicht ausschlaggebend, ob S. „eigenhändig gepanscht“ hat – das Gericht nimmt an, dass auch Mitarbeiter involviert waren. Dabei sei nicht anzunehmen, dass diese eigenhändig und ohne Wissen des Chefs unterdosiert haben. Dieser habe die volle Kontrolle gehabt. „Es lief nichts an ihm vorbei“, erklärte Hidding, der mit seinen Kollegen ein Organisationsdelikt sieht.
Und: Hat S. „quasi nur aus Versehen falsch dosiert?“, fragte Hidding. Zwar hätten zwei Sachverständige ausgesagt, dass der Apotheker 2008 einen dauerhaften Hirnschaden davongetragen hat und weiterhin an Kopfschmerzattacken leidet. Doch während ein von der Verteidigung beauftragter Psychiater eine verminderte Leistungsfähigkeit als gegeben sah und in Frage stellte, inwiefern S. für seine Taten verantwortlich sei, habe ein vom Gericht bestellter Sachverständiger die volle Schuldfähigkeit attestiert.
Dieser hatte auch eine Zyto-Apotheke besucht, um die Herstellung näher kennenzulernen. Diese sei „keine Operation am offenen Herzen“, sondern eine eher schlichte Tätigkeit, bei der man nicht viel nachdenken muss, erklärte Hidding. Außerdem habe S. sich auch selber immer als geistig fit gefühlt und er sei auch von Freunden und Kollegen als geistig gesund angesehen worden. S. habe deshalb ohne Zweifel vorsätzlich gehandelt. „Er ist voll schuldfähig“, sagte der Richter. Nach Einschätzung des Gerichts habe der Apotheker ganz schlicht aus Habgier gehandelt: Sein Leben sei von dem Streben nach materiellen Dingen geprägt gewesen.
Aufsichtsbehörden haben versagt
Stark kritisierte der Richter die Aufsichtsbehörden: S. hätte nicht so lange so handeln können, wenn es eine wirksame Apothekenkontrolle gegeben hätte, sagte er. „Die Geschichte dieses Kriminalfalls ist auch eine Geschichte des Behördenversagens“, erklärte Hidding: Es habe in den letzten Jahren nicht einmal eine einzige wirksame Kontrolle der Apotheke von S. gegeben. Nahezu alle Verwaltungsebenen seien beteiligt gewesen. Die Verantwortung sei dabei so gut aufgeteilt, dass sie am Ende niemand mehr trage, erklärte Hidding.
Vielfach richtete er sein Wort an die Patienten, die von S. beliefert wurden: Leider könne das Gericht ihnen nicht sagen, wer genau von Unterdosierungen betroffen sein. Er bat um Verständnis, dass das Gericht auf die „persönliche Gewissheit“, die manche Patienten beispielsweise aufgrund fehlender Nebenwirkungen hätten, kein rechtsstaatliches Urteil stützen könne.
Mediale Vorverurteilung strafmildernd berücksichtigt
Hidding erläuterte auch ausführlich, warum es sich nach Ansicht des Gerichts nicht um Mord handelte. „Weil wir in keinem einzigen Fall feststellen können, so bedauerlich das ist, dass jemand wegen einer Unterdosierung früher verstorben ist“, sagte er. Auch für versuchten Mord hätte nachgewiesen werden müssen, dass S. sich bewusst war, dass der einzelne Patient mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit länger leben würde – doch ein derartiger Tötungsvorsatz sei nicht beweisbar.
Strafmildernd berücksichtigte das Gericht, dass es in einigen Medien wie auch im öffentlichen Raum zu einer Vorverurteilung kam – so hatten Medien S. als „Todes-Apotheker“ bezeichnet oder die Taten als Fakt hingestellt, wie es auch in einem Schreiben des Bundeskanzleramts der Fall war. „Die Verteidiger haben zu Recht darauf hingewiesen“, sagte Hidding. Doch dürfe sich jemand, der so schwerwiegende Taten begeht, über die Reaktion in den Medien nicht wundern, erklärte er.
Strafverschärfende Aspekte überwiegen
Strafschärfend sei die sehr große Zahl von Taten. S. hätte außerdem sein „kriminelles Unwesen“ weiter getrieben, wenn nicht wenige mutige Menschen ihn gestoppt hätten. Außerdem sei Krebs eine besonders schlimme, unvorhersehbare Krankheit. Hidding schilderte den Fall einer Patientin, die von Dezember 2012 bis kurz vor der Verhaftung im November 2016 98 Infusionen aus der Apotheke von S. erhalten hat: Sie habe sich immer wieder zu ihrem Arzt begeben und sich Infusionen legen lassen. „Wir müssen vermuten, dass sehr oft keine Wirkstoffe in ihnen waren“, sagte der Richter. Sie verstarb in der Zwischenzeit – bald wäre sie 30 Jahre alt geworden.
„Rund 4000 Menschen oder ihre Angehörigen leben bis heute in Ungewissheit“, erklärte Hidding. All dies sei keine Folge einer Kurzschlusshandlung, sondern von S. über Jahre systematisch geplant – „alles mit dem Ziel, seine Habgier zu befriedigen“. Das Gericht erklärte sich davon überzeugt, dass S. nicht alleine unterdosiert hat. „Diese Mitarbeiter hat er offensichtlich mit Geld beruhigt“, sagte Hidding: Für Geldzahlungen in bar sei die Familie bekannt gewesen. So habe S. die Apotheke in eine „kriminelle Einrichtung verwandelt“.
Alles in allem überwiegen die strafschärfenden Gesichtspunkte deutlich, erklärte der Richter: Die Taten von S. seien so verwerflich, dass nur eine Strafe im oberen Bereich angemessen sei. Zuletzt richtete er sein Wort an den Apotheker, der während des Verfahrens von seinem Schweigerecht Gebrauch machte. Selbstverständlich sei dies sein gutes Recht, dass sich auch nicht negativ auf das Strafmaß auswirke. „Sie sind nach wie vor Apotheker“, betonte Hidding jedoch. Viele Patienten und Angehörige würden auf Antworten warten und wissen wollen, was wirklich passiert ist. „Sie wollen die Wahrheit hören – und zwar nicht vom Gericht, sondern von Ihnen“, sagte der Richter. Es wäre erfreulich, wenn S. über seinen Schatten springen würde – und so dem Vertrauen gerecht würde, dass er als Apotheker genossen habe.
Nebenklägerin Heike Benedetti, die monatliche Demonstration in Bottrop organisiert hatte, zeigte sich gegenüber DAZ.online zufrieden über den Ausgang des Verfahrens. Angesichts der möglichen Höchststrafe von 15 Jahren erklärte der Nebenklagevertreter Tobias Degener, das Strafmaß sei ein „Signal des Rechtsstaats“. Porwoll erklärte, die mit der Anzeige und der laufenden Verhandlung verbundene Anspannung fiele nun erstmal ab – angesichts der klaren Begründung des Gerichts zeigten er wie auch Marie K. sich zufrieden. „Für mich war wichtig, dass er ein Berufsverbot bekommt“, erklärte die PTA.
S., die Staatsanwaltschaft und die Nebenklage können binnen einer Woche Revision beim Bundesgerichtshof einlegen. Die Staatsanwaltschaft will dies laut einer Sprecherin in den nächsten Tagen prüfen. Ein Nebenklagevertreter kündigte an, sehr wahrscheinlich zum Bundesgerichtshof zu ziehen, da er Morddelikte als gegeben ansieht. Viele Patienten, die von S. beliefert wurden, oder deren Angehörige wollen außerdem zivilrechtlich gegen den Apotheker vorgehen.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text wurde um 16:00 Uhr ergänzt
1 Kommentar
Zwölf Jahre Haft für Peter S.
von Apotom am 09.07.2018 um 12:22 Uhr
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