Glycyrrhizin

Anti-COVID-19-Wunder aus der Süßholzwurzel?

Düsseldorf - 03.11.2020, 07:00 Uhr

Allem Anschein nach gibt es im Zusammenhang mit Glycyrrhizin und COVID-19 bislang keine veröffentlichten Forschungsergebnisse, die klassisch wissenschaftlich evident eine antivirale Wirkung belegen könnten. (c / a Foto: sasimoto / stock.adobe.com) 

Allem Anschein nach gibt es im Zusammenhang mit Glycyrrhizin und COVID-19 bislang keine veröffentlichten Forschungsergebnisse, die klassisch wissenschaftlich evident eine antivirale Wirkung belegen könnten. (c / a Foto: sasimoto / stock.adobe.com) 


Wie sehr viele Mittel, die schon einmal in vitro irgendeine antivirale Wirkung gezeigt haben, wird derzeit auch die Wirkung des Süßholzbestandteils Glycyrrhizin gegen den COVID-19-Erreger diskutiert – in etlichen Reviews, Meta-Analysen und analogen Schlussfolgerungen. Stringente und evidente wissenschaftliche Studien zur konkreten antiviralen Wirksamkeit fehlen aber. 

Nicht nur die Suche nach Impfstoffen gegen den COVID-19-Erreger SARS-CoV-2 läuft auf vollen Touren. Auch viele Stoffe, die eine antivirale Wirkung zeigen sollen, werden derzeit diskutiert – mit mehr oder weniger wissenschaftlichem Hintergrund und auch mit mehr oder weniger evidenter Beweisführung.

Mit dem Schlagwort „COVID-19“ wollen offensichtlich viele Forscher, Einrichtungen, Institute oder sonstige „Institute“ (der Begriff ist schließlich nicht geschützt) ein „Stück vom Kuchen“ abgreifen. Studien oder Reviews zu veröffentlichen ist in Zeiten nicht peer-reviewter Online-Veröffentlichungen einfacher geworden. Das macht evidenzbasierte (nicht nur) Arzneimittelforschung und Medizin umso wichtiger. 

Neben so gefährlichen Stoffen wie dem Desinfektionsmittel Chlordioxid aka MMS (Miracel Mineral Solution) oder dem mit vielen unerwünschten Wirkungen behafteten und gegen COVID-19 nutzlosen Malariamittel Hydroxychloroquin werden auch aus der traditionellen (chinesischen) Medizin bekannte Pflanzenextrakte als vermeintliche Wundermittel angepriesen. So etwa der Extrakt aus dem roten Sonnenhut, Echinacea, oder Glycyrrhizin – wirksamer und schmeckender Bestandteil des Süßholzextrakts aus Glycyrrhiza glabra.

Analogschlüsse, uneindeutige Methodik und Spekulation

Die Schlussfolgerungen, warum diese Wirkstoffe gegen SARS-CoV-2 Wirkung zeigen sollen, basieren dabei überdurchschnittlich oft entweder nur auf methodisch nicht immer zielführenden In-vitro-Experimenten oder auf mindestens spekulativen Analogien. Bei den In-vitro-Experimenten gibt es etwa Assays, bei denen eine Menge x einer Substanz zu einem Kulturmedium mit einer definierten Menge Virus gegeben wird. Anschließend wird mit einem Infektionstest geprüft, wie viele Viren nun noch infektionsfähig waren. Hat x dabei eine signifikante Menge der Viren abgetötet, war in jüngster Zeit oft zu lesen: „X wirkt antiviral gegen SARS-CoV-2“.

Unter Umständen, mit der Wahl entsprechender (physiologischer) Versuchsbedingungen, können In-vitro-Experimente – auch mit Zellkulturen – einen ersten Hinweis auf eine mögliche Wirkung einer Substanz gegen einen Erreger geben. Mehr aber auch nicht. Ohne Pharmakokinetik und Pharmakologie einer Substanz unter physiologischen Bedingungen in vivo lässt sich noch keine Aussage treffen.

Ähnliches gilt für nur quasi wissenschaftliche Analogieschlüsse. So wird für viele Substanzen vorhergesagt, dass sie gegen SARS-CoV-2 wirken könnten, weil die Substanz in der Vergangenheit auch schon mal (in vitro) gegen ein anderes Virus gewirkt hat. Selbst wenn dazu oft SARS-CoV-1 herangezogen wird, der Erreger von SARS Anfang des Jahrhunderts oder MERS-CoV (Erreger des Middle East Respiratory Syndroms) und beides Coronaviren sind – Evidenz generiert man damit nicht. 

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Süßholzwurzel

In jüngster Zeit gab es so auch mehrere Artikel, die sich mit der Wirkung von Glycyrrhizin gegen SARS-CoV-2 beschäftigten. Glycyrrhizin oder Glycyrrhizinsäure, ein Saponin, das in der Süßholzwurzel und einigen anderen Pflanzen vorkommt und den geschmacklichen Anteil in Lakritze darstellt, ist zweifelsohne ein pflanzlicher Wirkstoff mit pharmakologischer Wirkung. Dazu existieren eine Reihe von gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen. 

Durchaus nachgewiesene pharmakologische Wirkung von Glycyrrhizin

Glycyrrhizin wirkt über seinen Metaboliten, die Glycyrrhetinsäure, die bereits im Verdauungstrakt durch Spaltung des Glycyrrhizins entsteht. Als Inhibitor der 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase 2, die das körpereigene Hormon Cortisol in Cortison umwandelt, greift Glycyrrhetinsäure so in das Hormonsystem ein, bewirkt einen erhöhten Cortisol-Spiegel und wirkt damit unter anderem entzündungshemmend.

Bei erhöhter Glycyrrhizin-Zufuhr etwa durch hohen Lakritzkonsum gibt es ein Krankheitsbild, den Pseudo-Hyperaldosteronismus, verbunden unter anderem mit erhöhtem Blutdruck und basierend auf der Verschiebung des Gleichgewichts im Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, verursacht durch den erhöhten Cortisol-Spiegel. So gibt es eine empfohlene Höchstmenge der EU-Behörden von 100 mg Glycyrrhizinsäure täglich und eine Kennzeichnungspflicht für Starklakritz: 5.571 mg pro Kilogramm Körpergewicht gelten als toxische Dosis.

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Die pflanzliche Lösung

Verbunden mit der Wirkung auf das Immunsystem sind Wirkungen als bekanntes Hustenmittel (Saponine als Schleimlöser) sowie antivirale und antimikrobielle Wirkungen. Auch eine Plasmapersistenz und ein Abbauweg über die Leber sind bekannt. Süßholzextrakt und auch Glycyrrhizin sind daher nicht nur in der Traditionellen Chinesischen Medizin verwendete Wirkstoffe. Unter anderem in Japan wird der entzündungshemmende Effekt und die lange Verweildauer in der Leber genutzt, um etwa Hepatitis-Infektionen zu therapieren.

Reviews mit Spekulationen zu Wirkmechanismen

Im Zusammenhang mit COVID-19 versteigen sich aber gleich mehrere Forscher hauptsächlich zu Spekulationen. Die Forscher Christian Bailly und Gérard Vergoten etwa fassen in ihrem Review „Glycyrrhizin: An alternative drug for the treatment of COVID-19 infection and the associated respiratory syndrome?“, erschienen online bei „Sciencedirect“, mehr oder weniger alles zusammen, was seit den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Thema Glycyrrhizin veröffentlicht worden ist. Damit preisen sie den Wirkstoff als regelrechtes Wundermittel, das von Aids über Influenza bis Hepatitis mehr oder weniger alles kuriert. Dabei beziehen sie sich auch auf eine Veröffentlichung von 2003 im Lancet „Glycyrrhizin, an active component of liquorice roots, and replication of SARS-associated coronavirus“, bei dem eine antivirale Wirkung in vitro gegen den SARS-Erreger SARS-CoV-1 gezeigt wurde. Im Analogschluss gehen sie auch von einer Wirkung gegen den COVID-19-Erreger aus.

Ebenfalls in diesem Review zu finden ist die Spekulation über mögliche Wirkmechanismen. So wurde in diversen Experimenten gezeigt, dass das amphiphile Glycosid Glycyrrhizin an eine ganze Reihe von Proteinen mehr oder weniger fest binden kann. Darunter Rezeptoren wie ACE2 (das Angiotensin-konvertierende Enzym 2), das als Schlüsselenzym für den Eintritt des SARS-CoV-2 gilt, physiologisch auf vielen Geweben vorkommt und wenn es gerade nicht als Schlüssel für Vireneintritte missbraucht wird unter anderem eine Rolle im Renin-Angiotensin-Aldosteron-System spielt.

Die Spekulation, dass deshalb Glycyrrhizin gegen COVID-19 helfen könnte findet sich auch etwa in der Veröffentlichung „Pharmacological perspective: glycyrrhizin may be an efficacious therapeutic agent for COVID-19“ der Forscher Luo, Lio und Li mit dem etwas entlarvenden Zitat: „Although this research was performed in silico using molecular docking, and the in vitro demonstration of an interaction remains to be confirmed, glycyrrhizin might still be considered as a potential treatment for COVID-19 as it has an antiviral effect on SARS-CoV (ACE2 was also a functional receptor for the SARS-CoV).” Die Bindungskapazität wurde somit nur in silico, also im Computer simuliert. Wenngleich moderne computergestützte In-silico-Simulationen von Molekül-Molekül-Interaktionen ein großes mögliches Feld eventueller neuer Wirkstoffe eröffnen kann, ist es an sich wenig evident, eine nicht beobachtete, rein errechnete Interaktion als Beleg in einem Artikel zu verwenden.

Bislang wohl keine veröffentlichte evidente Forschung zu COVID-19 und Glycyrrhizin

In dem Review von Bailly und Vergoten gibt es ähnliche Spekulationen über in silico gezeigte Interaktionen (bzw. Interaktionsmöglichkeiten) mit anderen Proteinen – wobei die Spekulation über die Wirkung in diesem Fall mit HMGB1, dem High-Mobility-Group-Protein B1 insgesamt vage bleibt: „GLR bindet effizient am HMGB1. Der Glykosidanteil der GLR spielt eine wichtige Rolle bei der Interaktion mit dem HMG-Box-Protein. In Anbetracht der vielfältigen Funktionen von HMGB1 bei Virusinfektionen und der Replikation, könnte die Bindung von HMGB1 durch GLR signifikant zu einer Verminderung der virusinduzierten exzessiven Entzündungsreaktion und der viralen Replikation beitragen.”

Auch die Veröffentlichung „Glycyrrhizin: An old weapon against a novel coronavirus von Chrzanowski, Chrzanowska und Graboń in „Phytotherapy Research“ zieht lediglich Analogschlüsse aus den SARS-Experimenten 2003.

Allem Anschein nach gibt es im Zusammenhang mit Glycyrrhizin und COVID-19 bislang keine veröffentlichten Forschungsergebnisse, die klassisch wissenschaftlich evident eine antivirale Wirkung belegen könnten. Mutmaßungen in Veröffentlichungen, die dann in Nicht-Fachmedien schnell zu „Lakritz heilt COVID-19“ oder ähnlichem verkürzt und verfälscht werden, stufen Forscher und Mediziner allerdings eher als irreführend bis gefährlich ein.



Volker Budinger, Diplom-Biologe, freier Journalist
redaktion@daz.online


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