Herausfoderung für die Logistik

Rechenspiele um Impfstoff-Nachschub

Hamburg - 17.12.2021, 10:45 Uhr

Die Nachfrage nach Impfungen zieht wieder an. (x / Foto: IMAGO / agrarmotive)

Die Nachfrage nach Impfungen zieht wieder an. (x / Foto: IMAGO / agrarmotive)


Für impfende Praxen, Apotheken und den Pharmagroßhandel kommen die unerfreulichen Ergebnisse der aktuellen Impfstoff-Inventur zur Unzeit. Bereits im ersten Quartal reichten die verfügbaren Mengen nicht, um die Booster-Impfkampagne wie geplant zu fahren, gab der neue Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bekannt. Dabei stellt die zuletzt sprunghaft gestiegene Nachfrage nach Auffrischimpfungen die Organisatoren der Impflogistik, die Großhändler, schon heute vor erhebliche Probleme.

Die Nachfrage nach Impfungen zieht wieder an. Den Großhändlern bereitet das heute schon Kopfschmerzen. Nicht erst im Januar stockt der Nachschub. „Wir erleben eine deutlich erhöhte Nachfrage seit der zweiten Novemberhälfte“, informierte Anfang Dezember der Mannheimer Pharmahändler Phoenix und gab zu, diese aktuell nicht mehr vollständig bedienen zu können.

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„Bis zur letzten Dose“ lieferten die Mitgliedsunternehmen des Bundesverbands des pharmazeutischen Großhandels (Phagro) die verfügbaren Kontingente an Comirnaty® (Biontech/Pfizer) und Spikevax® (Moderna) aus, beteuert der Verband: Man sehe aber, dass Apotheken zuletzt weitaus mehr Comirnaty bestellten, als die Großhandelsunternehmen vom Bund erhalten, kritisierte der Phagro-Vorsitzende André Blümel.

Auch die niedergelassenen Ärzte sparten zuletzt nicht mit Kritik: Seit Wochen liefern sich Vertragsärzte, Großhandel und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) einen bizarren Deutungsstreit um bestellte und tatsächlich verabreichte Impfstoffmengen. Der Bund könne die von den Praxen angeforderten Impfstoffmengen nicht liefern, schimpft der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen. Die bereitgestellte Menge reiche nicht, um alle Bestellungen des Großhandels zu bedienen, ließ auch die Phagro wissen.

Das Ministerium hingegen registrierte nach eigener Darstellung einen deutlichen Überschuss an bereitgestellten Vakzin-Dosen gegenüber den tatsächlich gemeldeten Impfungen. Für die Kalenderwochen 47 bis 50 bis zum 17. Dezember würden voraussichtlich knapp 18 Millionen Dosen Biontech und fast 25 Millionen Booster-Dosen von Moderna an die impfenden Stellen (Arztpraxen, Betriebsärzte, öffentlicher Gesundheitsdienst, Impfzentren und mobile Teams) ausgeliefert, informierte das Ministerium bereits im Vorfeld der Ministerpräsidentenkonferenz am 2. Dezember: Allein 3,3 Millionen Dosen von Biontech seien in den KW 45 bis 47 mehr ausgeliefert als verimpft worden: „Dieser Trend setzt sich fort.“

„Derzeit gibt es bei den Impfstoffherstellern keine Lieferschwierigkeiten,“ betonte ein BMG-Sprecher Anfang Dezember. Vertraglich zugesagte Mengen würden ausgeliefert. Zusätzlich habe das Ministerium in Absprache mit Biontech und Moderna sogar erreicht, dass Impfstofflieferungen vorgezogen werden.

Woher kommt der Unterschied zwischen Angebot und Nachfrage?

So richtig erklären kann sich die immense Diskrepanz zwischen Lieferwünschen und tatsächlichen Impfungen niemand. In den meisten Beschwerde-Fällen habe sich gezeigt, dass Bestellungen in den Praxen zu spät oder nicht korrekt aufgegeben wurden, sagte der Ministeriumssprecher auf Anfrage. Ministerium und Großhandel verwiesen unter anderem auf den geänderten Bestellrhythmus. Seit dem 16. November können Ärzte die Vakzine wieder für die jeweils kommende Woche bestellen. Mit der Umstellung hatte das Ministerium auf den Wunsch zahlreicher Praxen reagiert, Impfstoff insbesondere für Auffrischimpfungen kurzfristiger beziehen zu können.

Zum Vergleich, die Situation 2020:

Der Phagro betont die logistische Herausforderung. Schließlich läuft die Versorgung mit COVID-19-Impfstoffen seit Oktober ausschließlich über den Pharmagroßhandel. Auch Impfzentren, Impfteams, der öffentliche Gesundheitsdienst, Amtsärzte und Krankenhäuser ordern inzwischen über den Großhandel. „Wegen der vor allem von den Ärzten geforderten Umstellung von einem zwei- auf ein einwöchiges Bestellintervall liegen zwischen dem Ende der Bestellfrist der Apotheken beim Großhandel (Dienstagabend) und dem Beginn der Auslieferungen des Großhandles an die Apotheken am folgenden Montag nur drei Werktage“, betont die PHAGRO. In dieser Zeit müssen die Vials bruch- und schüttelsicher umgepackt und verteilt werden, zusammen mit dem notwendigen Impfzubehör, Spritzen, Kanülen und NaCl-Lösungen - passgenau sortiert.

Kosten und Aufwand für den Großhandel

Innerhalb der verkürzten Bestellzeit sei es dem Bund nach dessen Aussage nicht möglich, den Großhandel entsprechend der tatsächlichen Bestellmengen und Bedarfe zu versorgen, so der Großhandelsverband. Es wird also geschätzt: Der Bund liefere auf der Grundlage der Bestellungen der Vorwochen, einer Bedarfsschätzung und der tatsächlichen Verfügbarkeit der Impfstoffe im Zentrallager des Bundes, sagt eine Phagro-Sprecherin. Stellt der Großhandel nach dem Ende der Bestellfrist für Apotheken fest, dass mehr bestellt wurde als geliefert werden kann, könne er zumindest Spikevax „unter erheblichem logistischem Aufwand“ aus dem Zentrallager des Bundes selbst abholen. „Das ist mit erheblichen Aufwänden und Kosten verbunden.“

Seit Wochen warnen die Großhändler ihre Kunden, es müsse womöglich kontingentiert werden. Gemäß den Vorgaben des BMG müsse die verfügbare Menge dann anteilig auf die Bestellungen der Apotheken in den Bundesländern verteilt werden.

Hinzu kommen voraussichtlich bald mit Apotheken und Zahnärzten weitere Impfende. Auch die Betriebsärzte werden seit Anfang Juni über den Großhandel und die Apotheken bestückt. Und es startet die Auslieferung des Impfstoffs für die Kinder im Alter zwischen fünf und elf Jahren.

Kein Planen möglich

Dass der Kreis der Impfberechtigten um Apotheken und Zahnärzte erweitert werden soll, stößt bei den Kassenärzten erwartungsgemäß auf wenig Gegenliebe: Wünschenswerter wäre es, dass zuerst einmal die Praxen so impfen könnten, wie sie das gerne täten, ärgert sich KBV-Chef Gassen: „Wem hilft es, wenn wir Vertragsärzte mit Apothekern, Zahn- und von mir aus auch noch Tierärzten um nicht vorhandenen Impfstoff konkurrieren? Wir stehen schlichtweg mit leeren Händen da.“

Der sprunghafte Nachfrageanstieg der vergangenen Wochen gegenüber der beinahe völligen Flaute im Spätsommer macht dem Großhandel das Planen schwer: Mit Arbeit an den Wochenenden, Frühschichten und zusätzlichen Kapazitäten über Speditionen versuche man die Nachfrageschwankungen abzufangen, berichten die Unternehmen. Was viele allerdings beunruhigt, sind ungeklärte Prozesse für die kommenden Aufgaben: Wie wird knapper Impfstoff zwischen Ärzten und Apotheken aufgeteilt? Wie melden Apotheken den eigenen Bedarf an, wie rechnen sie ab, welche Berechtigungen und Zertifikate müssen Apotheken vorlegen, damit sie mit Impfstoff für den eigenen Bedarf beliefert werden können?

ABDA sieht Abstimmungsbedarf

Zur Logistik rund um die Impfungen in Apotheken gebe es großen Abstimmungsbedarf, betont auch die ABDA. Das BMG verweist auf den neuen Pandemie-Krisenstab im Bundeskanzleramt.

„Das BMG konnte in Verhandlungen mit anderen EU-Ländern, die aktuell ihre Biontech-Dosen nicht vollumfänglich benötigen, erreichen, dass drei Millionen Dosen Biontech zusätzlich in dieser Woche an den Bund geliefert werden. Diese sollten in der vergangenen und zu Beginn der laufenden Woche (KW 50) den Bundesländern direkt für ihre öffentlichen Impfzentren und -kampagnen zur Verfügung gestellt werden“, meldete das Bundesministerium noch vor einer Woche. Außerdem würden zumindest in der 50. Kalenderwoche wieder deutlich mehr Impfdosen von Biontech über den Großhandel an die impfenden Stellen, insbesondere an die Arztpraxen, ausgegeben. Insgesamt acht Millionen Dosen Biontech und mehr als zehn Millionen weitere Booster-Dosen Moderna stellt der Bund in Aussicht.

Inzwischen lässt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Zweifel aufkommen, dass die jüngsten Lieferzusagen eingehalten werden können. Innerhalb der kommenden drei Wochen könnten in Deutschland etwa 3,2 Millionen Dosen Biontech ausgeliefert werden, sagte er am Mittwochabend im ZDF. „Das ist aber viel weniger als das, was die Ärztinnen und Ärzte jede Woche abrufen.“

KBV: Wöchentliche Impfstoffauslieferung ein Glücksspiel 

Die KBV reagiert frustriert: „Wir brauchen Transparenz und vor allem ganz schnell genügend Impfstoffe. Es kann nicht sein, dass die wöchentliche Impfstoffauslieferung ein Glücksspiel ist, bei dem die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen nie wissen, ob sie das erhalten, was sie auch bestellt haben“, kritisiert KBV-Chef Gassen. Arztpraxen könnten für die Woche ab dem 20. Dezember bis zu 30 Dosen je Arzt bestellen, hatte die KBV gemeldet. Das war allerdings vor der jüngsten Bestandsaufnahme. In vollem Umfang ausgeliefert werden dagegen laut BMG die Bestellungen für den Kinderimpfstoff von Biontech. Die Arztpraxen hätten rund 800.000 Dosen angefordert, die seit heute bis spätestens Mittwoch komplett ausgeliefert würden. Nächster Bestelltermin für den Kinderimpfstoff ist der 4. Januar, die Auslieferung der für diese Woche voraussichtlich zur Verfügung stehenden 1,25 Millionen Dosen erfolgt dann ab dem 10. Januar.



Sabine Rößing, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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