Gastkommentar zu den Landtagswahlen

„Freiheit ist keine App aus dem WWW“

Erfurt - 26.08.2024, 10:45 Uhr

Wählen zu gehen ist das höchste Privileg in einer Demokratie, sagt: Danny Neidel, Geschäftsführer der Landesapothekerkammer Thüringen. (Foto: Jacob Schröter)

Wählen zu gehen ist das höchste Privileg in einer Demokratie, sagt: Danny Neidel, Geschäftsführer der Landesapothekerkammer Thüringen. (Foto: Jacob Schröter)


Am 1. September wird in Thüringen und Sachsen ein neuer Landtag gewählt. Wir haben an dieser Stelle bereits einen Gastkommentar der Geschäftsführers des Sächsischen Apothekerverbands, Enno Bernzen, und einen Gastkommentar der Adexa-Bundesvorständin Tanja Kratt veröffentlicht. Es folgt ein Gastkommentar des Geschäftsführers der Landesapothekerkammer Thüringen, Danny Neidel, der einen Blick auf die Situation in dem Bundesland wirft.

Liebe Leserinnen und Leser der DAZ, werte Kolleginnen und Kollegen,

der Bitte einen Kommentar zu Wahl zu verfassen, komme ich sehr gern nach. Bitte erlauben Sie mir als Thüringer zunächst einige Anmerkungen. Ich vermute, dass am Wahltag spätestens ab 18:01 Uhr wieder mit dem erhobenen Zeigefinger in Richtung Thüringen oder – wie es in den Medien gern genannt wird – nach Ostdeutschland gezeigt wird. Und genau das wirkt wie ein Katalysator für die Feinde der Demokratie.

Auch mehr als drei Jahrzehnte nach dem politischen Umbruch werden wir gern aufs Skurrile reduziert. Mit dem wohlfeilen Blick auf den Stereotypen des zurückgebliebenen Ostdeutschen mit schwarz-rot-gelbem Fischerhut und einem grundsätzlich sächsischen Dialekt wird die wertvolle und mühsame Arbeit der vielen demokratischen Initiativen in Thüringen quasi ausgeblendet und erschwert. Wer nur ein bisschen sucht, findet neben Leander Haussmanns „Stasikomödie“ auch die Berichte der Thüringer Landesregierung zu ihren Aktivitäten auf dem Gebiet der Aufarbeitung der SED-Diktatur in Thüringen oder die umfangreiche Arbeit zum Tod des DDR-Oppositionellen Matthias Domaschk in Stasi-Haft. Solche Arbeiten spielen im bundesweiten Bewusstsein kaum eine Rolle. Dabei wäre es gerade jetzt so unglaublich wichtig, uns gemeinsam eine bessere Erinnerungskultur zu erarbeiten und darüber ein besseres Verständnis füreinander zu entwickeln. Wir werden in den nächsten Jahren alle Kräfte brauchen, um die Werte unserer Demokratie zu verteidigen. „Den Osten“ pauschal abzuschreiben, können sich Demokraten nicht leisten.

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Ich definiere mich als gesamtdeutscher Bürger, der im schönsten der 16 Bundesländer aufgewachsen ist und lebt. Nach der Wende wurde ich plötzlich „Ossi“ oder „Ostdeutscher“ – quasi wie Frauen „nur“ Frauenfußball spielen, während den Männern vermeintlich der (einzig wahre) Fußball vorbehalten bleibt. Meine Eltern sind beide in der DDR aufgewachsen und haben beide starke Wende-Brüche hinnehmen müssen. Sie haben beide ihre etablierten Jobs verloren und mussten sich irgendwie noch mal neu aufstellen. Und die Eltern aller meiner Freunde auch. Manchen gelang dies besser, andere sind daran zerbrochen. Die Angst, dass dies meinen Eltern und meinen Familienangehörigen ebenfalls passiert, hat mich mehr geprägt als alles andere.

Brüche in der Biografie

Es gibt solche Brüche in jeder Thüringer Biografie. Hinzu kommt, dass der Start der Demokratie – nicht wie nach dem 2. Weltkrieg in der BRD mit einem Wirtschaftswunder und Aufschwung einherging – sondern in Thüringen in den meisten Fällen mit Ängsten, Sorgen und einem wirtschaftlichen Abstieg verbunden war. Auch kann das tiefe Misstrauen der Ostdeutschen, welches gern auch mal als Jammern abgestempelt wird, besser verstanden werden, wenn die Verbindung mit der „Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt" gesehen wird[1]. Und da haben wir über das Thema „Buschzulage“ für vermeintliche Experten aus „dem Westen“ noch gar nicht gesprochen.

Belegbar ist, dass unsere Kultur in bundesdeutschen Medien gern negiert wird. Kennen Sie Uwe Seeler? Ja, sicherlich. Jeder kennt den ersten Fußballer des Jahres in Deutschland – so nennt Wikipedia die Auszeichnung, obwohl es bis zur Wende in beiden Ländern entsprechende Ehrungen gab. Aber kennen Sie auch Manfred Kaiser? Nein, wer soll das denn sein? Manfred „Manni“ Kaiser wurde 1963 erster Fußballer des Jahres der DDR. Für ihn und seine eindrucksvollen Leistungen ist offensichtlich kein Platz in der gesamtdeutschen Erinnerung. Warum eigentlich? Als „Manni“ am 15. Februar 2017 verstarb, suchte ich vergebens einen Nachruf in einem gesamtdeutschen Sportmagazin. Aus einer Thüringer Perspektive stellt sich die Frage gar nicht, ob darüber berichtet werden sollte, dass dieser Fußballheld verstorben ist – wenn man ihn nicht kennt, weil er gar nicht zum „richtigen Deutschland“ gehörte, leider auch nicht.

 „So isser, der Ossi“?

Das so wichtige Zusammenwachsen kann aber nicht gelingen, wenn gesellschaftliches Desinteresse für die Geschichte oder gar Herablassung den Blick auf „den Osten“ prägen. „So isser, der Ossi“, durfte ich 2019 im Spiegel lesen. Vier Jahre später erklärte der Springer-Chef, dass die „Ossis alle Kommunisten und Faschisten“ seien. Die Diskussion über „den Ossi“ wird nach dem 1. September wieder aufflammen – so viel ist wohl schon heute sicher. Aber wenn wir ganz ehrlich zueinander sind, dann müssen wir eingestehen, dass es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte gibt. Einzelne Experten wie Prof. Steffen Mau[2] vertreten sogar die Auffassung, dass „der Osten“ ökonomisch, politisch, aber auch, was Mentalität und Identität betrifft, anders bleiben wird und schlagen daher Alternativkonzepte wie Bürgerräte vor. Völlig unabhängig davon ist es mir aber besonders wichtig festzuhalten, dass uns eine neue Ost-West-Debatte, die erneut mit Schuldbegriffen operiert, wieder in die Sackgasse führen wird und nur die Feinde unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung stärkt.

„Und falls du dich jetzt fragst, wie man die Welt verbessern kann: Wie wär’s mit wählen gehen“, formulieren „die ärzte“ in ihrem Song Demokratie außerordentlich treffend [3]. Ganz in diesem Sinne lautet meine Bitte an Sie: Gehen Sie am 1. September 2024 wählen und nehmen Sie alle Wahlberechtigten Ihres Umfeldes mit, denn „Nicht-Wähler werden oft falsch verstanden oder gar nicht“.[4]

Es steht mir nicht zu, Ihnen Hinweise oder Vorgaben für Ihre freie Wahl zu machen. Aber ich erlaube mir, Ihnen meine persönliche Wahlentscheidung, die überwiegend aus pharmazeutischen Gründen getroffen wird, zu erläutern. Thüringens Bevölkerung wird älter. Mit dem Alter steigt der Bedarf an einer gut funktionierenden Gesundheitsinfrastruktur mit einer flächendeckenden Arzneimittelversorgung rund um die Uhr. Dafür brauchen wir jede einzelne Apotheke und innovative Versorgungskonzepte wie ARMIN. Vor allem und gerade im ländlichen Raum. Wer sich eine Arzneimittelversorgung ohne meine Kolleginnen und Kollegen – und damit ohne ARMIN und individuelle Rezepturen – vorstellen kann, schwächt Thüringen und kann – genau wie diejenigen, die für die Arzneimittelversorgung der Thüringerinnen und Thüringer kein Konzept haben – keine der beiden Stimmen von mir bekommen.

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Vermutlich haben Sie andere Beweggründe oder Schwerpunkte für Ihre Entscheidung. In jedem Fall sollten wir – auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte – geheime und freie Wahlen nicht als Selbstverständlichkeit betrachten und für eine möglichste hohe Beteiligung werben. „Demokratie ist kein Fußballspiel, bei dem Du nur Zuschauer bist“, singen „die ärzte“ in ihrem Song. Wählen zu gehen ist das höchste Privileg in einer Demokratie. Wer darauf verzichtet, wird vielleicht bald nicht mehr wählen können,

glaubt Ihr Danny Neidel.


 

[1] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/W/wahrnehmung-und-bewertung-der-arbeit-der-treuhandanstalt-kurz.html

[2] https://www.sowi.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/makro/mitarbeiter/Prof_Mau

[3] die ärzte – DEMOKRATIE | https://www.youtube.com/watch?v=n9kQLU3Q8A0. Auch das Zitat aus dem Titel dieses Gastkommentars entstammt dem Lied.

[4] Initiative des Thüringer Landtages: https://www.kann-folgen-haben.de/


Danny Neidel, Geschäftsführer der Landesapothekerkammer Thüringen (LAKT)


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