Seltene Nebenwirkung

Was ist das maligne neuroleptische Syndrom?

04.11.2024, 14:00 Uhr

(Foto: Stockfotos-MG /AdobeStock) 

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Aktuellen Erkenntnissen zufolge besteht unter Duloxetin ein Risiko für ein malignes neuroleptisches Syndrom. Produktinformationen entsprechender Präparate müssen angepasst werden. Die seltene ­Nebenwirkung kann auch unter anderen Arzneimitteln auftreten.

Das maligne neuroleptische Syndrom (MNS) ist eine seltene, potenziell lebensbedrohliche neurologische Erkrankung, die im Zusammenhang mit der Einnahme von Antipsychotika, Dopamin(D2)-Antagonisten sowie einigen nicht-antidopaminergen Arzneimitteln auftreten kann. Typische Symptome sind Bewusstseinsstörungen, Hyperthermie, Muskelsteifigkeit (Rigor) und autonome Funktionsstörungen. Das Syndrom entwickelt sich vergleichsweise langsam, mit ersten Symptomen innerhalb von drei Tagen bis zwei Wochen nach Therapiebeginn. Bei einer Dauertherapie kann es aber auch Jahre später auftreten. Zunächst kann das Bewusstsein eingetrübt sein und Hyperthermie auftreten, gefolgt von weiteren Sym­ptomen innerhalb weniger Tage wie zentrale autonome Funktionsstörungen einschließlich Tachykardie, Tachypnoe, Schwitzen, kardiale Arrhythmien oder Blutdruckregulationsstörungen, Muskelsteifigkeit und Bewegungsstörungen (Parkinson-ähnliche Symptome wie Bradykinesie) sowie Erhöhung der Kreatinkinase (CK) bis hin zur Rhabdomyolyse und in schweren Fällen akutes Nierenversagen. Das Syndrom tritt bei 0,02 bis 2,44% der mit Antipsychotika bzw. D2-Antagonisten behandelten Patienten auf. Die Inzidenz wird mit 0,1 bis 0,2% angegeben. Am häufigsten tritt das MNS zwischen dem 20 und 50. Lebensjahr auf, 70 bis 80% der Betroffenen sind unter 50 Jahre alt. Männer sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Frauen. Die Mortalität wird mit 5 bis 20% angegeben, bei Nierenversagen entsprechend höher. Die Wahrscheinlichkeit für einen ungünstigen Ausgang erhöht sich mit weiteren Faktoren, wie der Einnahme starker Anti­psychotika, höherem Alter und bereits bestehenden kardiorespiratorischen Erkrankungen. 

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Wie das maligne neuroleptische Syndrom genau entsteht, ist noch unklar. Bislang soll ein Dopamin-Mangel die Symptome verursachen, vermutlich in Folge einer Blockade zentraler D-Rezeptoren. Werden D2-Rezeptoren im Hypothalamus blockiert, entstehen Temperaturregulationsstörungen und Fieber, während die Muskelrigidität wahrscheinlich aus der D2-Rezeptorblockade im nigrostriatalen System ­resultiert. Die autonome Symptomatik lässt vermuten, dass auch alle anderen Neurotransmittersysteme beeinflusst sind.

Sowohl die klassischen Antipsychotika der 1. Generation als auch die atypischen Antipsychotika der 2. Generation können das Syndrom hervorrufen. Antipsychotika antagonisieren Dopamin-, Serotonin-, Histamin-, Muscarin- und adrenerge Rezeptoren und verändern die synaptische Erregungsübertragung. Je nach Wirkstoff unterscheiden sich die Affinitäten an den einzelnen Rezeptor-Subtypen teils stark voneinander, wodurch sich die unterschiedlichen Wirk- und Nebenwirkungsprofile erklären lassen. Klassische Antipsychotika, insbesondere das hochpotente Haloperidol und Fluphenazin, sind bereits bei geringer Dosierung mit dem höchsten Risiko für ein malignes neuroleptisches Syndrom verbunden. In der Gruppe der atypischen Antipsychotika scheint unter Risperidon ein relativ hohes Risiko zu bestehen. Darüber hinaus können die D2-Rezeptor-Antagonisten Metoclopramid (MCP) und Domperidon, die als Prokinetika und Antiemetika eingesetzt werden, ein MNS auslösen. Aber auch nicht-antidopaminerge Wirkstoffe spielen eine Rolle. So können Lithium, Carbamazepin und diverse Antidepressiva, wie tricyclische ­Antidepressiva, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) und selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) wie Duloxetin die lebensbedrohliche Erkrankung aus­lösen, insbesondere wenn sie miteinander kombiniert werden.

Warnhinweise bei Duloxetin

Für Duloxetin wurde kürzlich ein europäisches, die periodischen Sicherheitsberichte bewertendes Verfahren durchgeführt. Der Ausschuss für Risikobewertung im Bereich Pharmakovigilanz (PRAC) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) kam zu dem Schluss, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Duloxetin und dem Auftreten eines MNS möglich ist. Grundlage waren Daten aus Literatur und Spontanberichten zum MNS und ein plausibler Wirkmechanismus.

Produktinformationen von Duloxetin-haltigen Arzneimitteln sollen deshalb entsprechend geändert und um Warnhinweise zum Auftreten des MNS ergänzt werden (s. Kasten „Wann müssen Patienten zum Arzt?“). Basierend auf den Empfehlungen des PRAC hat die Europäische Kommission Anfang Juli 2024 einen entsprechenden Durchführungsbeschluss erlassen, der vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) umgesetzt wurde. Das Risiko für das Auftreten eines Serotonin-Syndroms oder eines MNS ist besonders hoch, wenn Duloxetin mit anderen Arzneimitteln kombiniert wird, die serotonerge und/oder dopaminerge Neurotransmittersysteme beeinflussen können. In dem Fall sollen Patienten sorgfältig beobachtet werden, vor allem bei Therapiebeginn und bei Dosiserhöhungen.

 

Wann müssen Patienten zum Arzt?

Die Packungsbeilagen Duloxetin-haltiger Arzneimittel müssen in Zukunft einen Hinweis enthalten: Patienten sollen sich an ihren Arzt wenden, „wenn sie Anzeichen und Symptome von Unruhe, Halluzinationen, Koordinationsverlust, schnellem Herzschlag, erhöhter Körpertemperatur, schnellen Blutdruckschwankungen, übermäßigen Reflexen, Durchfall, Bewusstlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen verspüren, da sie möglicherweise an einem Serotonin-Syndrom leiden. In seiner schwersten Form kann das Serotonin-Syndrom dem malignen neuroleptischen Syndrom ähneln. Anzeichen und Symptome von MNS können eine Kombination aus Fieber, schnellem Herzschlag, Schwitzen, starker Muskelsteifheit, Verwirrtheit und erhöhten Muskelenzymen (bestimmt durch einen Bluttest) sein.“

Mit diesen Änderungen kann weiterhin von einem positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis Duloxetin-haltiger Arzneimittel ausgegangen werden, so das BfArM.

Risikofaktoren und Diagnose

Verschiedene Faktoren erhöhen das Risiko eines MNS: z. B. Depotpräparate, intravenöse Verabreichung oder schnelle Dosissteigerungen. Geringe, konstante orale Dosen sind risikoärmer, aber auch hier wurden MNS-Fälle beobachtet. Das Risiko steigt weiter, wenn mehrere neuroleptische und/oder serotonerge Wirkstoffe kombiniert werden. Im perioperativen Umfeld können die Einnahme von Antidepressiva oder Prokinetika, schnelle Medikamentenänderungen, Flüssigkeitsmangel, Stress und Hitze MNS begünstigen – besonders bei Patienten mit MNS in der Vorgeschichte.

Die Diagnosestellung basiert auf der typischen klinischen Symptomatik unter Antipsychotika oder Dopamin-Rezeptorblockern, nachdem andere Ursachen ausgeschlossen wurden. Labortests (z. B. erhöhte Kreatinkinase, Leukozytose) und Bildgebung unterstützen die Diagnose. Eine gründliche Differenzialdiagnose ist entscheidend, ähnliche Erkrankungen sind das Serotonin-Syndrom, das zentrale anticholinerge Syndrom, maligne Hyperthermie, Infektionen, Autoimmunerkrankungen, Salicylatvergiftung, Hirntrauma, Schlaganfall und Hitzschlag.

Arzneimittel sofort absetzen

Das maligne neuroleptische Syndrom ist ein akuter medizinischer Notfall, der schnelles Absetzen des vermutlich auslösenden Wirkstoffs und intensive Überwachung erfordert. Daneben sollte die Körpertemperatur gesenkt, die Vitalfunktion gesichert und ausreichend Flüssigkeit zugeführt werden, um einen durch Rhabdomyolyse ausgelösten Nierenschaden zu verhindern. Zusätzlich sollten die Elektrolyte kontrolliert und eine Thromboseprophylaxe durchgeführt werden. In den meisten unkomplizierten Fällen tritt innerhalb von ein bis zwei Wochen nach Absetzen der oralen Antipsychotika eine Besserung ein. Schwere Fälle erfordern intensivmedizinische Betreuung mit Überwachung auf kardiorespiratorisches Versagen, Nierenversagen und Gerinnungsstörungen. Darüber hinaus kann es erforderlich sein, den Patienten zu beatmen oder an ein Dialysegerät anzuschließen. Mittel der Wahl ist Dantrolen, ein schnell wirkendes Muskelrelaxans, das innerhalb weniger Minuten zu einer Abnahme des Rigors führt, Herz- und Atem­frequenz sowie das Fieber senkt. Bei Patienten mit Leberschäden kann der D2-Agonist Bromocriptin anstatt dem hepatotoxischen Dantrolen eingesetzt werden. Die Wirkung von Bromocriptin tritt allerdings erst nach einem Tag ein. Es kann zu einem Blutdruckabfall kommen, und es muss langsam ausgeschlichen werden, um ein Aufflammen des MNS zu verhindern. Vereinzelt werden auch andere Wirkstoffe wie Amantadin und Benzodiazepine eingesetzt, ein klarer Wirknachweis dafür wurde jedoch bislang nicht erbracht. Positive Effekte konnten dagegen mit Elektrokrampftherapie erzielt werden. Bei einem raschen Entzug dopaminerger Arzneimittel ist das Auftreten eines malignen L-Dopa­-Entzugssyndroms möglich, das klinisch dem MNS ähnelt, diesem aber nicht gleichzusetzen ist und anders therapiert werden muss. Hier ist Amantadin indiziert, und die zuvor abrupt abgesetzten Medikamente müssen wieder eingesetzt werden. |

Literatur

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Bescheid vom 06.08.2024. Änderung von Zulassungen infolge des Europäischen PSUR Single Assessment Verfahrens (EMEA/H/C/PSUSA/00001187/202308) nach Artikel 107d bis g der Richtlinie 2001/83/EG

Europäische Kommission. Durchführungsbeschluss der Kommission vom 08.07.2024 betreffend die Zulassungen für Humanarzneimittel mit dem Wirkstoff „Duloxetin“ gemäß Artikel 107e der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates.

Geisslinger G, Menzel S, Gudermann T et al. Antipsychotika in Mutschler Arzneimittelwirkungen (Kapitel 9). Wiss. Verlagsgesellschaft mbH. 11. Auflage 2020

Hackmann O und Wöbker G et al. 2020. Malignes neuroleptisches Syndrom in Referenz Intensivmedizin (Teil VII Erkrankungen des Nervensystems). www.thieme-connect.de/products/ebooks/lookinside/10.1055/b-0040-176585

Hölle T, Purrucker JC, Morath B et al. Zentrales anticholinerges, malignes neuroleptisches und Serotoninsyndrom. Wien Klin Mag. 2023;26(3):124-132

Kyotani Y. et al. The role of antipsychotics and other drugs in the development and progression of neuroleptic malignant syndrome. Scientific reports Natureportfolio. 2023;13:18459

Malignes Neuroleptika-Syndrom (MNS), Informationen bereitgestellt von Deximed Hausarztwissen online, www.deximed.de, Stand: 24.02.2022

Malignes neuroleptisches Syndrom. Informationen bereitgestellt von Lecturio GmbH. www.lecturio.de, Abruf 06.09.2024

Malignes neuroleptisches Syndrom. Informationen bereitgestellt von Orphanet. www.orpha.net, Abruf 06.09.2024

Murri MB, Guaglianone A, Bugliani M et al. Second-generation antipsychotics and neuroleptic malignant syndrome: systematic review and case report analysis. Drug RD 2015;15:45-62


Dr. Daniela Leopoldt, Apothekerin
redaktion@daz.online


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