Das EuGH-Urteil

Alles steht Kopf

Das EuGH-Urteil und seine Folgen aus Sicht des Gesundheitsrechtlers Dr. Elmar Mand (Uni Marburg)

Von Elmar Mand | In nur einem Urteil gelingt der 1. Kammer des Europäischen Gerichtshofs ein wahres „Meisterstück“: Sie justiert die gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Kontrolle gesundheitspolitischer Regelungen der Mitgliedstaaten komplett neu, stellt die fundierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der obersten Gerichtshöfe des Bundes in Deutschland auf den Kopf, schlägt dem deutschen Gesetzgeber ein in unzähligen Gesundheitsreformen austariertes und optimiertes Regelungsinstrument zur Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung aus der Hand und erteilt – ohne die Besonderheiten im deutschen Gesundheitswesen und die erläuternden Parteivorträge zu berücksichtigen – Nachhilfe in neoliberaler Gesundheitsökonomie.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist es Sache der Mitgliedstaaten zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Damit trägt der Gerichtshof der alleinigen Regelungszuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Gesundheitswesen (Art. 168 Abs. 7 AEUV) Rechnung. Deshalb hat er mitgliedstaatliche Regelungen, die dem Gesundheitsschutz dienen, in den letzten Jahren auch nur einer eingeschränkten Verhältnismäßigkeitsprüfung im Lichte der Grundfreiheiten des Binnenmarkts unterzogen. So erkannte er in seiner Entscheidung zum deutschen Fremdbesitzverbot für Apotheken explizit einen nicht kontrollierbaren Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten an. Diese müssten „wenn eine Ungewissheit hinsichtlich des Vorliegens oder der Bedeutung der Gefahren für die menschliche Gesundheit bleibt, Schutzmaßnahmen treffen können, ohne warten zu müssen, bis der Beweis für das tatsächliche Bestehen dieser Gefahren vollständig erbracht ist.“

Neuverteilung der Darlegungs- und Beweislast

Die kleine Kammer des EuGH, die über die Vereinbarkeit des einheitlichen Apothekenabgabepreises mit der Warenverkehrsfreiheit zu befinden hatte, gelangt nunmehr jedoch zu einer grundlegenden Neuinterpretation. Gerichte müssten, so heißt es im Urteil, anhand „statistischer Daten, auf einzelne Punkte beschränkter Daten oder anderer Mittel objektiv prüfen, ob die von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgelegten Beweise bei verständiger Würdigung“ etwaige Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen können. Diese Neuverteilung der Darlegungs- und Beweislast außerhalb eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik durch die 1. Kammer des EuGH ist mehr als nur erstaunlich. Die Kammer weicht damit nicht nur von der bisherigen Linie des eigenen Gerichts, insbesondere auch der großen Kammer, ab. Sie widerspricht auch offen der profunden, jahrzehntealten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der obersten Gerichtshöfe des Bundes. Mehr noch, die Kammer hat keine Skrupel, die politischen Entscheidungen des deutschen Gesetzgebers, die ihrerseits das Ergebnis eines jahrzehntelangen regulatorischen Optimierungsprozesses sind, durch eine ihrerseits praktisch nicht revisible, detaillierte judikative Verhältnismäßigkeitskontrolle zu ersetzen.

Welch befremdliche Ergebnisse es hat, wenn sich ein demokratisch nicht legitimierter Spruchkörper auf diese Weise quasi zum Ersatzgesetzgeber im Gesundheitswesen auf-schwingt, lässt sich im vorliegenden Urteil gleich mehrfach bestaunen. Unter anderem klärt die Kammer den Norm­geber darüber auf, dass ein bei unregulierten Abgabe­preisen möglicher, selektiver Preiskampf mit umsatz­starken (Chroniker-)Medikamenten gar keine Gefahren für die flächendeckende Versorgung mit (Akut-)Arzneimitteln heraufbeschwört. Im Gegenteil: Freie Preise förderten die gleichmäßige Versorgung mit Arzneimitteln dadurch, „dass Anreize zur Niederlassung in Gegenden gesetzt würden, in denen wegen der geringeren Zahl an Apotheken höhere Preise verlangt werden könnten“. Ob und wie die dort lebenden Patienten die höheren Preise bezahlen können, wer überhaupt für die Arzneimittelkosten aufkommt und welche Steuerungswirkungen die Preisregulierung für Arzneimittel im hoch regulierten Gesamtheitssystem der sozialen Sicherheitssysteme in Deutschland hat, spielt in den Erwägungen der Kammer, die ganz offenbar marktliberalen, simplifizierenden ökonomischen Basismodellen verhaftet sind, leider keine Rolle.

Aus juristischer Sicht hat die Kammer noch weitere Überraschungen parat. Das Urteil liest sich, als hätten es die Prozessparteien versäumt, die notwendigen Belege für die Wirkungen der Preisregulierung beizubringen. Der Verfasser hatte in den letzten Tagen Gelegenheit, die beim EuGH für die Wettbewerbszentrale eingereichten Schriftsätze zu studieren, an der anerkannte Experten des EU-Rechts und die ABDA mitgewirkt haben. Dort finden sich nicht nur explizite und empirisch belegte Marktdaten, welche die Wirkung des deutschen Arzneimittelpreisrechts in substantiierter Weise aufzeigen. Vielmehr wird auch ausführlich dargelegt, dass das Preisrecht integraler Bestandteil der komplexen Gesamtregulierung im deutschen Gesundheitswesen ist. So knüpfen an das Preisrecht zahlreiche aufeinander abgestimmte Kostendämpfungsmaßnahmen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherungen – wie die Zuzahlungs­regelung für Patienten oder diverse Vorgaben für ein wirtschaftliches Verordnungsverhalten für Ärzte – an. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Kammer diesen Sachvortrag schlicht übergeht. Dabei hätte auch der Kammer klar sein müssen, dass es nicht hinnehmbare Fehlanreize begründen kann, wenn krankenversicherte Patienten durch hohe Boni und Gutscheine von Versandapotheken bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln unter Umständen „auf Rezept“ Geld verdienen können.

Folgen des Urteils

Die im Arzneimittelgesetz und der Arzneimittelpreis­verordnung normierten, einheitlichen Apothekenabgabepreise gelten weiter für Apotheken mit Sitz in Deutschland. Die Entscheidung des EuGH betrifft allein grenzüberschreitende Versandvorgänge durch ausländische Apotheken an Kunden in Deutschland. Selbst insoweit fragt sich, ob zumindest gesetzliche Krankenkassen eine Zahlung verweigern können oder gar müssen, wenn ausländische Versandapotheken auf die sozialrechtlich vorgesehenen Zuzahlungen der Versicherten verzichten. Immerhin handelt es sich bei den Zuzahlungsbestimmungen im SGB V um zwingende, der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung dienende Vorgaben, die das Kostenbewusstsein der Patienten stärken und einen lenkenden Einfluss auch auf das Verordnungsverhalten in der Arzt-Patientenbeziehung haben sollen. In konsequenter Anwendung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Wegfall von Vergütungsansprüchen bei Gesetzesverstößen läge eine Nullretaxation in solchen Fällen also nahe. Unionsrechtswidrig dürfte dies wohl nicht sein.

Unabhängig davon ist es Sache des deutschen Gesetzgebers, die eklatante Inländerdiskriminierung deutscher Apotheker infolge des EuGH-Urteils so schnell wie möglich zu beseitigen. Hierzu liegt es nahe, den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln wieder ganz zu verbieten. Denn damit wäre eine komplette Abkehr von dem bisher funktionstüchtigen, über Jahrzehnte austarierten System der Arzneimittelpreisbildung in Deutschland entbehrlich. Juristisch unbedenklich ist ein solcher Schritt – unabhängig von einem entsprechenden politischen Willen – aber nicht. Zwar erweist sich die komplette Untersagung des Versandhandels als unionsrechtskonform. Daneben muss der deutsche Gesetzgeber aber auch das Grundgesetz beachten, das unter anderem die Berufsfreiheit und die Eigentumsgarantie (Art. 12, 14 GG) der Versandapotheker schützt. Letztlich dürfte eine Untersagung des Rx-Versandhandels verfassungsrechtlich jedoch zu rechtfertigen sein. Immerhin schränkt das Unionsrecht in seiner Neuinterpretation durch den EuGH die Regelungsoptionen des deutschen Gesetzgebers in einer Weise ein, die eine grundlegende Revision seiner Entscheidung, den Versandhandel freizugeben, rechtfertigt. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Umsatzvolumina im Rx-Versandhandel bisher sehr niedrig sind, während der Internetvertrieb trotz aller Bemühungen um mehr Sicherheit die Hauptabsatzquelle für gefälschte Arzneimittel ist.

„Mit diesem Urteil setzt sich der EuGH in skandalöser Weise über die substantiierten Argumente der Bundesregierung, der obersten deutschen Bundesgerichte und der ABDA hinweg.“

Prof. Hilko J. Meyer, Frankfurt University of Applied Sciences

Fazit

Alles in allem überzeugt das Urteil des EuGH juristisch in keiner Weise. Dennoch zwingt es letztlich zu weitreichenden Anpassungen im nationalen Recht. Da in der Arzneimittelversorgung ein atypischer Wettbewerb vorherrscht, der sich nur in einem engen regulatorischen Gesamtgefüge entfaltet und durch erhebliche Informationsasymmetrien und externe Effekte geprägt ist, laufen die anstehenden Eingriffe – wie jede grundlegende „Gesundheitsreform“ – auf einen Großversuch hinaus. Dass der Versuch auf Anhieb vollständig gelingt, ist unwahrscheinlich. Man wird mit vielen Nachjustierungen an der einen oder anderen Stelle zu rechnen haben. Leider sind viele Patienten, Apotheker und Apothekenangestellte mit ihren existenziellen Bedürfnissen die notwendigen Teilnehmer dieses vom EuGH verordneten Versuchs. |


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