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5 Jahre EuGH-Urteil
Ein unrühmliches Jubiläum
Vor fünf Jahren fällte der Europäische Gerichtshof sein Urteil zur Arzneimittelpreisbindung
Seit dem Jahr 2000 leben die deutschen Apotheken mit der Konkurrenz von Arzneimittelversendern aus dem EU-Ausland – damals wurde DocMorris gegründet. Das in den Niederlanden ansässige Unternehmen platzte in einen Apothekenmarkt, in dem der Versandhandel mit Arzneimitteln gänzlich verboten war. Doch das störte DocMorris wenig. Der Versender setzte sich rebellisch über geltende Gesetze hinweg und scheute keine der darauf folgenden juristischen Auseinandersetzungen. Der umsatzstarke Markt in Deutschland reizte über alle Maßen. Und der lange Atem lohnte sich für die Niederländer: Zum 1. Januar 2004 wurde unter SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (im Konsens mit Union und Grünen, aber ohne Unterstützung der FDP) der Versandhandel mit verschreibungsfreien wie auch verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in Deutschland erlaubt. Die Erwartung in der Politik war damals, dass der EuGH das bestehende Verbot ohnehin kippen würde. Dies erwies sich als Fehleinschätzung – allerdings kam das erste „DocMorris-Urteil“ für die bereits beschlossene weitreichende gesetzliche Umwälzung zu spät: Die Luxemburger Richter entschieden im Dezember 2003, dass es einem Mitgliedstaat durchaus erlaubt ist, aus Gründen des Gesundheitsschutzes, den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln zu untersagen – lediglich wenn es um Rezeptfreies gehe, dürfe der freie Warenverkehr nicht eingeschränkt werden.
Die positiven EuGH-Entscheidungen
2004 konnte DocMorris dann also richtig loslegen – und andere Arzneimittelversender in Europa ebenfalls. Doch die niederländische Kapitalgesellschaft nahm zunächst noch einen anderen Grundpfeiler des deutschen Apothekensystems in Visier: Das Fremd- und Mehrbesitzverbot. In Saarbrücken schaffte sie es, eine Apothekenbetriebserlaubnis zu erhalten – möglich machte das der damalige saarländische Gesundheits- und Justizminister und heutige Chef des Gemeinsamen Bundesausschusses Josef Hecken (CDU). Der Jurist zeigte sich überzeugt, dass das Fremdbesitzverbot EU-rechtswidrig sei und hatte keine Hemmungen, sich deshalb über diese Regelung hinwegzusetzen. Es folgte ein Rechtsstreit, an dessen Ende Hecken eines Besseren belehrt wurde: Der EuGH bestätigte im Jahr 2009 zur großen Erleichterung der deutschen Apothekerschaft, dass diese nationale Regelung durchaus mit dem Europarecht zu vereinbaren ist. Die große DocMorris-Apothekenkette im Fremdbesitz war damit abgewendet.
Der Angriff auf die Preisbindung
Aber DocMorris sägte nebenher auch an weiteren deutschen Regularien des Apotheken- und Arzneimittelmarkts. Wie ließ sich erreichen, dass deutsche Kunden in den Niederlanden Medikamente bestellten, statt sie einfach bequem in der Apotheke in der Nachbarschaft zu erstehen? Im Bereich der OTC war das nicht allzu kompliziert. Die Versender konnten schnell Fuß fassen, da zeitgleich zur Zulassung des Versandhandels im Jahr 2004 auch die GKV-Erstattung für rezeptfreie Arzneimittel gestrichen und die Preise freigegeben wurden. Wer nun Rezeptfreies suchte, schaute gern nach Sonderangeboten – und die boten die auf Masse setzenden Versender. Doch wie kam man nun an die Rezepte? Hier gab und gibt es die Hürde, dass das Rezept im Original per Post in die Niederlande geschickt werden muss. Zudem: Da jedenfalls im GKV-Bereich das Prinzip der Sachleistung gilt, war es schwieriger über den Preis zu locken. Immerhin gibt es die Zuzahlung, auf welche die Versender nun meinten, verzichten zu können. Und sie erdachten sich noch einige weitere Rabattmodelle, die den Deutschen den Rx-Arzneimittelerwerb bei ihnen schmackhaft machen sollten, beispielsweise über Gutscheine, die dann bei späteren OTC-Käufen eingelöst werden konnten.
2012: Ein übergangsweiser Schlusspunkt
Die deutschen Apotheken wollten sich diesen ungleichen Wettbewerb und die ordnungsrechtlichen Verstöße in Form der Rx-Boni nicht gefallen lassen. Jahrelang stritt man sich vor den Gerichten – nicht zuletzt die Apothekerkammer Nordrhein erwies sich als beständiger Stachel im DocMorris-Fleisch. Allerdings: Auch die deutschen Gerichte waren sich einige Zeit uneins, ob die EU-Versender mit ihren Boni gegen das Preisrecht verstießen oder nicht. Das führte dazu, dass eine höchst selten zusammenkommende Konstellation von Richterinnen und Richtern ein Machtwort sprach: Im August 2012 entschied der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, dass sich auch eine EU-ausländische Versandapotheke an die Vorgaben der Arzneimittelpreisverordnung halten muss, wenn sie verschreibungspflichtige Arzneimittel an Kunden in Deutschland versendet. Ausdrücklich sahen sie hierbei auch kein europarechtliches Problem und hielten daher eine Vorlage an den EuGH nicht für nötig. Damit schien das Thema juristisch abgeschlossen. Der Gesetzgeber sorgte überdies für eine entsprechende Klarstellung im Arzneimittelgesetz (§ 78 Abs. 1 Satz 4 AMG in der Fassung vor dem VOASG).
Wettbewerbszentrale ./. Deutsche Parkinsonvereinigung
Doch dann befasste sich das Oberlandesgericht Düsseldorf in einem Klageverfahren der Wettbewerbszentrale mit einer weiteren Art von DocMorris-Boni: Die Deutsche Parkinson Vereinigung (DPV) pries ihren Mitgliedern besondere Konditionen des Versenders an. Das Gericht tat sich offenkundig schwer, die hiesige Rechtslage hinzunehmen und beschloss im März 2015, den EuGH anzurufen. Es wollte dort erfahren, ob dieser ebenfalls meint, dass die Rx-Preisbindung für Versandapotheken im EU-Ausland europarechtlich unproblematisch ist.
Damit startete das dritte DocMorris-Verfahren in Luxemburg, obwohl die Niederländer diesmal nicht selbst Partei waren, sondern die DPV. Schon im Stellungnahmeverfahren ließ die Europäische Kommission ihre Sicht auf die Dinge wissen: Das Rx-Boni-Verbot für ausländische Versandapotheken verstoße gegen die Grundlagen des freien Warenverkehrs innerhalb der Union. Das deutsche Argument, die Rx-Preisbindung sei erforderlich, um die flächendeckende Versorgung sicherzustellen, überzeugte die Kommission nicht. Sie hatte im Übrigen bereits 2013 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik in die Wege geleitet, damit diese die Preisbindung für EU-Versender streicht.
Im März 2016 fand in Luxemburg die mündliche Verhandlung statt. Wie das Gericht entscheiden würde, erschien im Anschluss zunächst völlig offen. Anfang Juni legte jedoch Generalanwalt Maciej Szpunar seine Schlussanträge vor und es breitete sich Unruhe aus: Auch Szpunar meinte, die Rx-Preisbindung für EU-Versandapotheken schränke den freien Warenverkehr in nicht gerechtfertigter Weise ein. Zwar ist der EuGH nicht an die Empfehlung der Schlussanträge gebunden – doch meistens folgt er ihnen, so auch in diesem Fall.
EuGH: EU-Versender haben es schwerer
Als die Erste Kammer des EuGH am 19. Oktober 2016 ihr Urteil verkündete, führte sie zur Begründung aus, dass sich die Festlegung einheitlicher Abgabepreise für rezeptpflichtige Arzneimittel auf in anderen Mitgliedstaaten ansässige Apotheken stärker auswirke als auf inländische. Der Versandhandel sei für diese Apotheken ein wichtigeres, eventuell sogar das einzige Mittel, um einen unmittelbaren Zugang zum deutschen Markt zu erhalten. Und anders als „traditionelle“, also deutsche Vor-Ort-Apotheken, könnten sie nur ein eingeschränktes Leistungsangebot bieten. Da sie also nicht durch Personal vor Ort individuell beraten und eine Notfallversorgung mit Arzneimitteln sicherstellen könnten, sei der Preiswettbewerb für Versandapotheken ein wichtigerer Wettbewerbsfaktor als für „traditionelle“ Apotheken. Denn von ihm sei abhängig, ob sie Zugang zum Markt finden und auf diesem konkurrenzfähig bleiben können, so das Gericht.
Neue Maßstäbe
Grundsätzlich, so räumte der EuGH ein, könne ein Mitgliedstaat eine Beschränkung des freien Warenverkehrs zwar mit dem Schutz der Gesundheit und des Lebens rechtfertigen. Doch die deutsche Preisbindung hielt der Gerichtshof nicht für geeignet, um das Ziel, die flächendeckende Arzneimittelversorgung sicherzustellen, zu erreichen. Hierbei setzten die Richter neue Maßstäbe bei der Darlegungs- und Beweislast. Gestand man den Mitgliedstaaten bislang einen Wertungsspielraum zu, auf welchem Niveau und wie sie den Schutz der Gesundheit sicherstellen wollen, so hieß es nun, es müssten handfeste Belege her. Die deutsche Seite habe nicht die erforderlichen Beweise beigebracht, dass nur durch einheitliche Rx-Preise die flächendeckende Versorgung und eine gleichmäßige geografische Verteilung der traditionellen Apotheken in Deutschland sichergestellt werden könne. Die Luxemburger Richter meinten sogar, einige der seitens der Kommission eingereichten Unterlagen legten das Gegenteil nahe: Mehr Preiswettbewerb unter den Apotheken könne die gleichmäßige Versorgung mit Arzneimitteln sogar fördern. Denn so würden Anreize zur Niederlassung in Gegenden gesetzt, in denen wegen der geringeren Zahl an Apotheken höhere Preise verlangt werden könnten.
Auch sah der Gerichtshof keine Belege, dass es ohne die Preisbindung zu einem Preiswettbewerb kommen könnte, der die Zahl der Präsenzapotheken in dem Maße sinken lasse, dass wichtige Leistungen wie die Notfallversorgung in Deutschland nicht mehr zu gewährleisten wären. Andere Wettbewerbsfaktoren wie die individuelle Beratung der Patienten durch Personal vor Ort könnten den traditionellen Apotheken nämlich eventuell dabei helfen, konkurrenzfähig zu bleiben.
„Dieses EuGH-Urteil hat das Arzneimittel trivialisiert und als beliebige Ware einsortiert, unser ordnungspolitischer Rahmen wurde hier gesprengt. Leider war die zielführendste und beste Maßnahme, die Auswirkungen dieses Urteils zu unterbinden, trotz großen Einsatzes von uns Apothekern, Verankerung im damaligen Koalitionsvertrag, eindeutigem Votum aus dem Bundesrat, leider politisch nicht umsetzbar. Ob das VOASG hinsichtlich des Rabattverbots auf Dauer hält, was der politische Wille hinter diesem Gesetz war, wird sich zeigen. Die Baustelle ‚Privatrezepte‘ zumindest bleibt. Zuversichtlich stimmt vielleicht, dass das EU-Vertragsverletzungsverfahren in diesem Zusammenhang nun offenbar erledigt ist.“
Ursula Funke, Präsidentin der Landesapothekerkammer Hessen
Der Ruf nach dem Rx-Versandverbot
Das Urteil erschütterte die deutsche Apothekenwelt zutiefst. Und es dauerte keinen Tag, da priesen die EU-Versender ihre neuen Modelle zum „Geldsparen auf Rezept“ an. Geworben wurde beispielsweise mit bis zu 30 Euro „Sofort-Bonus“ pro Rezept. Die deutschen Apotheken konnten dem Treiben nur machtlos zusehen. Ihnen selbst blieben die Hände gebunden, sie mussten die nun existierende „Inländerdiskriminierung“ akzeptieren. Denn für sie gilt die Arzneimittelpreisverordnung weiterhin. Dies haben mittlerweile verschiedene obergerichtliche Urteile bestätigt. Um den vom EuGH abgesegneten ungleichen Wettbewerb zu beenden, gab es Sicht der hiesigen Apotheken nur einen sicheren Weg: Der Gesetzgeber sollte den Arzneimittelversandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln wieder verbieten. Schließlich hatte der EuGH, wie oben ausgeführt, schon entschieden, dass ein solches aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sein kann. Die ABDA startete eine Kampagne mit dem Aufruf „Die Politik muss handeln!“ In Anzeigen in verschiedenen Tageszeitungen erklärte sie, dass die Rundumversorgung durch wohnortnahe Apotheken aufs Spiel gesetzt werde. Es folgten zahlreiche Aktionen und eine Unterschriftensammlung für den Erhalt der Apotheke vor Ort, die durch „gefährliche Einflüsse von außen“ gefährdet sei.
Keine Chance für Gröhe
Bekanntermaßen alarmierte das Urteil auch die Politik – allerdings wurde hier vor allem diskutiert und spekuliert, aber wenig gehandelt. Der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) stellte sich zwar sofort an die Seite der Apothekerschaft und legte einen Gesetzentwurf für ein Rx-Versandverbot vor. Doch der Koalitionspartner SPD blockierte. Hier schlug man stattdessen unter anderem einen befristeten Boni-Deckel für alle Apotheken vor. Auch das Justiz- und das Wirtschaftsministerium – beide SPD-geführt – verweigerten ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf unter Hinweis auf europarechtliche und verfassungsrechtliche Bedenken. Sogar das unter CDU-Leitung stehende Finanzministerium stellte sich daraufhin quer. Unterstützung für Gröhes Plan gab es lediglich von der Linken, doch mit der wollte sich die Union auf keinen Fall einlassen. Letztlich scheiterte das Vorhaben vor der Bundestagswahl. Nach der Bundestagswahl 2017 schaffte es Gröhe zwar noch, dass das Rx-Versandverbot im Koalitionsvertrag von SPD und Union Erwähnung fand. Aber der dort versprochene „Einsatz“ für ebendieses fiel kläglich aus. Gröhes Nachfolger im Ministeramt, Jens Spahn, machte keinen Hehl daraus, dass er von einem Versandverbot gar nichts hält.
Das Rx-Boni-Verbot im Sozialrecht
Es dauerte weitere drei Jahre ehe ein Kompromiss in Gesetzesform gegossen wurde: Mitte Dezember 2020 trat das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz in Kraft, das die Rx-Preisbindung an den Rahmenvertrag koppelt und ins Sozialgesetzbuch V verschiebt. Damit wurde zumindest für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung ein neues Rx-Boniverbot etabliert. Für Verstöße gegen dieses sind nun empfindliche Sanktionen vorgesehen – aussprechen kann sie die jüngst neu geschaffene paritätische Stelle des Deutschen Apothekerverbands und des GKV-Spitzenverbands.
Ob Europa den Schachzug, die Preisbindung vom Arzneimittel- ins Sozialrecht zu verschieben, akzeptieren würde, bezweifelten viele. Doch bislang wurde die neue Regelung nicht auf den juristischen Prüfstand gestellt. Vielmehr ist weitgehende Ruhe bei den EU-Versendern eingekehrt. Geldwerte Boni gibt es noch für Privatrezepte. DocMorris & Co. konzentrieren sich mittlerweile ganz auf das E-Rezept, das im kommenden Jahr flächendeckend Pflicht werden soll. Können Arzneimittelverordnungen erst einmal mit einem Klick in einer App online verschickt werden, versprechen sich die Versender einen regen Kundenzustrom und Rx-Marktanteile, die die gegenwärtigen oft zitierten rund 1 Prozent weit übersteigen. Sollten sich ihre Hoffnungen allerdings nicht erfüllen, ist nicht ausgeschlossen, dass sie noch gegen die neue Regelung vorgehen. Aber auch die Europäische Kommission hat bereits ein starkes Signal gegeben: Im September hat sie ihr Vertragsverletzungsverfahren eingestellt, mit dem sie die Bundesrepublik zuletzt Anfang 2019 aufgefordert hatte, die Preisbindung bei Rx-Arzneimitteln für EU-Versender aufzuheben. |
Kirsten Sucker
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