Geburtstag eines Klassikers

55 Jahre Valium

Stuttgart - 28.08.2018, 12:30 Uhr

In Deutschland wird kein Diazepam mehr unter der Marke Valium vertrieben. (c / Foto: picture alliance/BSIP)

In Deutschland wird kein Diazepam mehr unter der Marke Valium vertrieben. (c / Foto: picture alliance/BSIP)


Valium® ist wohl einer der Arzneimittelnamen mit dem größten Bekanntheitsgrad, vergleichbar mit Viagra® und Aspirin®. Auch wenn das Original in Deutschland gar nicht mehr vertrieben wird, sondern nur Generika, ist es dennoch ein Begriff. In diesem Jahr feiert der von Hoffmann-La Roche entwickelte Klassiker seinen 55. Geburtstag.

Die Geschichte zu Valium® beginnt in den 1950er-Jahren – und zwar mit einem Zufall: In einem amerikanischen Forschungslabor der Basler Firma Hoffmann-La Roche wurde nach neuen Beruhigungsmitteln geforscht. Man suchte Substanzen, die ungefährlicher waren als die bisher verfügbaren, etwa die Barbiturate. Die meisten der neu synthetisierten Verbindungen erwiesen sich jedoch als pharmakologisch uninteressant. Das Forschungsprogramm wurde eingestellt. Bei den Aufräumarbeiten im Labor stießen die Wissenschaftler auf zwei übrig gebliebene Substanzen. Routinemäßig wurden auch diese noch getestet – mit erstaunlichen Ergebnissen.

Überraschende Eigenschaften

Im Tierexperiment an Mäusen stellte man mit der ersten Substanz beruhigende, krampflösende und muskelrelaxierende Effekte fest. Erfreulicherweise erwies sich die Toxizität als sehr gering. Dies war die Geburtsstunde des ersten Benzodiazepins: Chlordiazepoxid, das unter dem Handelsnamen Librium® 1960 den Markt eroberte. Für einen noch größeren Boom sorgte das zweite Benzodiazepin: Diazepam (Valium® Roche), das 1963 eingeführt wurde. Erfinder der neuen Substanzklasse war der Chemiker Leo Henryk Sternbach – Sohn eines polnisch-jüdischen Apothekers (1908–2005).

Diazepam gehört zu den Benzodiazepinen mit relativ langer Halbwertszeit (20 bis 50 Stunden). Es wird ebenso wie Chlordiazepoxid zu den aktiven Metaboliten Nordazepam (Desmethyldiazepam), Temazepam und Oxazepam verstoffwechselt. Die alle ebenfalls als eigenständige Arzneimittel eingesetzt werden. Nordazepam hat dabei eine längere Halbwertszeit als Diazepam selbst und kumuliert bei täglicher Gabe.

Eine „rosa Brille“ auf Rezept

Wer zur Alltagsbewältigung ein bisschen Unterstützung benötigte, dem wurde Valium® verschrieben. Es versprach Entspannung und guten Schlaf, beseitigte Reizbarkeit und Angst und ließ einen alles durch die „rosa Brille“ sehen. Vor allem Frauen rund um die Wechseljahre zählten in den 1960er-Jahren zu den Hauptkonsumenten. „Klimakterische Beschwerden“ und „Vegetative Dystonie“ gehörten denn auch explizit zu den Indikationen. Valium® und folgende Benzodiazepine wurden in Abgrenzung zu bisherigen Sedativa nun als „Tranquilizer“ bezeichnet.

Auf Euphorie folgt Ernüchterung

Diazepam bindet als Agonist an die Benzodiazepinbindungsstelle des GABAA-Rezeptors, einem Chlorid-Ionenkanal. Als allosterischer Modulator – eine konformationelle Änderung erhöht die Rezeptor-Empfindlichkeit – verstärkt es die inhibitorische Wirkung des Neurotransmitters γ-Aminobuttersäure (GABA). Eine verstärkte GABA-Aktivität führt zu einer erhöhten Öffnungsrate am Chloridkanal und damit zu einem verstärkten Einstrom von Chloridionen in die Zelle. Die Erhöhung der intrazellulären Chloridkonzentration führt durch Hyperpolarisation zu einer verminderten Erregbarkeit der Zelle.

Die Euphorie über die vermeintlich nebenwirkungsfreien neuen Mittel war groß. Vor allem beeindruckte ihre große therapeutische Breite. Auch suizidgefährdete Menschen konnten mit Valium® kaum Missbrauch treiben. Dennoch zogen bald Schatten über dem Tranquilizer auf. Es zeigte sich, dass Patienten von Valium® abhängig wurden. Außerdem hatte die Substanz in Kombination mit Alkohol unheilvolle Wirkungen. Schlagzeilen machten die Zusammenbrüche von Prominenten wie der Schriftstellerin Simone de Beauvoir oder der Schauspielerin Elizabeth Taylor. Auch beim Tod von Elvis Presley (1977) war offenbar Diazepam mit im Spiel.

Risiken und Abhängigkeitsgefahr

Heute kennt man die zahlreichen Risiken der inzwischen zahlreichen Benzodiazepine (zum Beispiel Bromazepam, Midazolam, Nitrazepam, Oxazepam). Sie können unter anderem die Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit mindern, Gedächtnisstörungen und Verwirrtheitszustände hervorrufen und wegen der muskelentspannenden und hypnotischen Wirkung zu Stürzen führen. Man geht außerdem davon aus, dass es in Deutschland mehr als eine Million Benzodiazepin-Abhängige gibt. Dennoch stellen „Benzos“ nach wie vor wichtige Arzneimittel dar. Je nach Substanz werden sie vorzugsweise bei Angst-, Spannungs- und Erregungszuständen, als Schlafmittel, bei Epilepsie, bei muskulären Verspannungen oder vor operativen Eingriffen eingesetzt.

An die 4-K-Regel denken

Um die Abhängigkeitsgefahr zu minimieren, sollte man bei der Kundenberatung an die griffige 4-K-Regel denken:

  • Klare Indikation: Einnahme nur, wenn medizinisch notwendig, nicht vorbeugend
  • Kleinste notwendige Dosis: nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich einnehmen
  • Kurze Anwendung: Einnahme möglichst auf 14 Tage beschränken
  • Kein schlagartiges Absetzen: Medikament langsam ausschleichen


Ulrike Weber-Fina, Diplom-Biologin, Autorin PTAheute.de
redaktion@daz.online


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