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Wenn Arzneimittel Stürze auslösen
Einfach nur ausgerutscht?
Dass ältere Patienten oftmals nicht mehr so gut zu Fuß sind, wird von vielen als „normal“ angesehen. Angehörige wundern sich selten, wenn die Großeltern stolpern oder sogar stürzen. Auch den Patienten selbst würden oft zig Gründe einfallen, warum sie gefallen sind: Sie suchen die Schuld bei sich selbst, weiß Frau Dr. Verena Stahl. Sie machte am heutigen Freitag auf der Interpharm darauf aufmerksam, dass Stürze die Hauptursache für tödliche Verletzungen im Alter sind. Apotheker sollten wissen, welche Arzneimittel und auch (falsch behandelte) Krankheiten Stürze fördern.
Wenn Patienten selbstkritisch sind, dann ist das eigentlich eine positive Eigenschaft: „Ich hätte das Licht anmachen sollen“, so gab am heutigen Dienstag Frau Dr. Verena Stahl die Aussage eines typischen älteren Patienten wider, der nachts im Bad ausgerutscht war. Er wollte auf die Toilette, aber seine Frau nicht wecken – das Licht blieb also aus. Doch ist er wirklich einfach nur ausgerutscht? Wäre er früher unter diesen Umständen vielleicht nicht hingefallen? Warum muss er nachts überhaupt so häufig zur Toilette? All das sind Fragen, die sich nicht nur der Patient stellen sollte, sondern auch die Apotheke, wenn sie von solchen Fällen erfährt.
Unbedingt an Arzneimittel denken!
Stahl hat zu einem Thema in der Arzneimittelsicherheit promoviert und arbeitet als Referentin für verschiedene Apothekerkammern, sowie als Autorin für die Deutsche Apotheker Zeitung (AMTS-Spezial). Sie schärfte in ihrem Vortrag den Sinn für solche Fälle, wie den oben geschilderten: So könne man das Sturzrisiko häufig schon vermindern, indem man den Patienten darauf aufmerksam macht, dass sein Diuretikum an seinem häufigen nächtlichen Harndrang schuld sein könnte und ihm die morgendliche Einnahme empfehlen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Patienten, die zwar merken, dass ein Arzneimittel ihr Sturzrisiko steigert, aber nicht darauf verzichten können oder wollen: „Ohne das Schlafmittel würde es mir noch viel schlechter gehen.“
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Zunächst gilt es aber, die eigentliche „Stolperfalle“ erst einmal zu identifizieren. Diese kann extrinsisch (beispielsweise Teppichböden, zu lang gewordene Kleidung, Kabel, mangelhafte Beleuchtung, eingeschränkte Mobilität, schlechtes Schuhwerk) oder intrinsisch (beispielsweise schlechtes Sehen, Harndrang, orthostatische Hypotonie, Muskelschwäche, Gangstörung, Schläfrigkeit, Schwindel) bedingt sein. Auch bestimmte Krankheiten, wie zerebrovaskuläre Durchblutungsstörungen, Herzryhthmusstörungen, Morbus Parkinson und Epilepsie können das Sturzrisiko erhöhen. Was aber sowohl die extrinsischen als auch die intrinsischen Faktoren beeinflusst, das sind Arzneimittel, so Stahl. Entweder bedingen die Arzneimittel selbst dann durch ihre Nebenwirkungen das erhöhte Sturzrisiko oder aber sie werden falsch eingesetzt – wie bei einer übermäßigen Blutdrucksenkung bei arterieller Hypertonie, oder bei einem schlecht eingestellten Diabetes.
FRID: „fall increasing drugs“ füllen lange Listen
Sogenannte FRID („fall increasing drugs“), also sturzfördernde Arzneimittel, könnten laut Stahl zwar lange Listen füllen, dennoch würden diese Arzneimittel im Alltag nicht immer beachtet. Die „eine“ FRID-Liste gibt es auch noch nicht, es sei aber in den nächsten Jahren mit so einer Liste zu rechnen. Sie würde derzeit von der EuGMS (European Geriatric Medicine Society) erarbeitet. Bis dahin könne man aber durchaus die alt bekannten Listen zu Rate ziehen – wie Beers, Forta, Priscus und Co..
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Was Listen leisten können
Die FRID zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie
sedierend, anticholinerg, muskelrelaxierend oder orthostaseauslösend wirken.
Auch
Antithrombotika werden teils mit einem erhöhten Sturzrisiko assoziiert. Jedoch
steigern diese das Risiko nur sekundär über eine erhöhte Blutungsgefahr, das
eigentliche Sturzrisiko wird beispielsweise durch einen zugrundeliegenden
Schlaganfall bedingt. Auch PDE-5-Hemmer können über Interaktionen sekundär zu
Stürzen führen.
Ist die Polypharmazie das eigentliche Problem? Jein!
Die Erfahrung der letzten 15 Jahre würde zeigen, dass es spezielle
Arzneimittel gibt, die ein besonderes Sturzrisiko mit sich bringen. So zum
Beispiel die Antidepressiva. Wer nun aber dachte, dass hier vor allem die
Trizyklika das Hauptproblem darstellen, wegen ihrer anticholinergen Wirkung,
der lag in der Theorie zwar richtig, musste aber in der Folge lernen, dass SSRI
(Selektive Serotonin Reuptake Inhibitoren) ein noch größeres Sturzrisiko mit
sich bringen.
Die Erfahrung zeigte auch, dass die zunehmende Polypharmazie zwar natürlich das
Risiko für Stürze steigert – wenn man sich innerhalb der Polmedikation aber gezielt die Arzneimittelgruppe
der FRID anschaue, erkenne man, dass diese die Stellschraube sind, an der das
Risiko vermindert werden kann, klärte Stahl in ihrem Vortrag auf.
Wichtig ist auch, dass das Sturzrisiko
dosisabhängig ist: So würden etwa auch kurzwirksame Benzodiazepine das
Sturzrisiko steigern, wenn sie zu hoch dosiert werden. Der Hauptgrund, warum
ältere Patienten aber auf Benzodiazepine empfindlicher reagieren sei eine reduzierte
Leberkapazität: Bei einem 80-Jährigen sei die Diazepam-Halbwertszeit etwa zwei
bis dreimal länger als bei einem 20-Jährigen. Auch hier kann die Apotheke also
auf das Sturzrisiko positiv einwirken und ein alternatives Präparat
vorschlagen. Noch einfacher lässt sich in diesem Zusammenhang der „Hangover-Effekt“ unter Benzodiazepinen von der Apotheke beeinflussen: Der Abstand von einer Mahlzeit muss ausreichend
sein, damit das Benzodiazepin nicht verzögert in den Morgen hineinwirkt. Auch
die Schlafdauer muss ausreichend sein, damit es am Morgen zu keinen Stürzen kommt. Sind die Psychopharmaka also die „bösen
Buben“? Nicht allein: Vielmehr solle man den Blick auch auf die kardiovaskuläre
Medikation richten, meint Stahl.
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Stahl machte dann noch auf einen „Exoten“ unter den Arzneimitteln, die das Sturzrisiko steigern könnten, aufmerksam: die Alpha-Blocker bei der Prostatabehandlung, die zu einer orthostatischen Hypotonie führen können. Gerade das häufig eingesetzte Tamsulosin solle man deshalb immer mit oder nach der Nahrung einnehmen, auch wenn es nüchtern besser wirkt. Die Orthostase sei dann dosisabhängig geringer. Nicht zuletzt machte Stahl auch auf die „unschöne Seite“ der Opioide, also deren Nebenwirkungen, aufmerksam. Stahl beschrieb die Opioide als „Medusa“.
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