Misoprostol in Cytotec – Teil 2

Geburtseinleitung nach Leitlinie – nicht möglich?

Stuttgart - 18.02.2020, 11:30 Uhr

Die Geburt kann für viele Frauen zur Grenzerfahrung werden. Diskussionen in diesem Themenfeld werden häufig auch emotional geführt. ( r / Foto: Gorodenkoff / stock.adobe.com)

Die Geburt kann für viele Frauen zur Grenzerfahrung werden. Diskussionen in diesem Themenfeld werden häufig auch emotional geführt. ( r / Foto: Gorodenkoff / stock.adobe.com)


Warum ist in den Medien eine so große Diskussion um das Arzneimittel Cytotec entbrannt? Liegt es allein an der fehlenden Zulassung in der Geburtseinleitung oder sind die Gründe vielschichtiger? Ein Grund könnte jedenfalls sein, dass es schon seit mehreren Jahren keine gültigen Leitlinien mehr für die Geburtseinleitung gibt und selbige in Deutschland recht uneinheitlich gehandhabt wird. Dennoch äußern sich die Experten grundsätzlich einig dazu, dass Misoprostol seinen berechtigten Platz in der Geburtseinleitung findet – und eine neue Leitlinie steht kurz vor der Fertigstellung.

Wie geht Geburtseinleitung denn „richtig“? Apotheker, die sich selbst zum Fall Cytotec aus der Süddeutschen Zeitung vom vergangenen Mittwoch informieren wollten, haben wahrscheinlich schnell nach den aktuellen Leitlinien zur Geburtshilfe „gegoogelt“. Zunächst werden sie auf die Leitlinie „Anwendung von Prostaglandinen in Gynäkologie und Geburtshilfe“ von 2010 gestoßen sein. Diese ist allerdings abgelaufen und „wird derzeit überarbeitet“ – ein Vermerk von 2013. Dr. Christian Fiala (vom Gynmed Ambulatorium und Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch in Wien), der sich sehr für den Einsatz von Misprostol in der Geburtshilfe einsetzt, erklärte gegenüber DAZ.online, dass es im Jahr 2015 bereits ein fast fertiges Manuskript der Leitlinie gegeben haben soll. 

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Bereits in der abgelaufenen Leitlinie kann man nachlesen: „Misoprostol nimmt eine Sonderstellung ein. Es handelt sich um ein Prostaglandin-E1-Derivat, das in der Geburtshilfe weltweit eingesetzt wird, für die Anwendung in der Schwangerschaft aber nicht zugelassen, sondern laut Firmenangabe kontraindiziert ist.“ Es wird auf den Off-Label-Use und die notwendige Aufklärung sowie Dokumentation verwiesen.

Wirkungseintritt der Prostaglandine nicht vorhersehbar

Grundsätzlich heißt es außerdem, dass jede Geburtseinleitung eine kritische und individuelle Risiko-Nutzen-Analyse erfordert. Zudem wird von einer ambulanten Geburtseinleitung mit Prostaglandinen abgeraten, weil der Wirkungseintritt der Prostaglandine nicht vorhersehbar sei. Entsprechende Überwachungsmaßnahmen müssten zur Verfügung stehen. Das scheint aber nicht allein Misoprostol zu betreffen, sondern alle Prostaglandine – auch was die Nebenwirkungen angeht. Speziell wird auf die Risikokonstellation nach Kaiserschnitt eingegangen: Zulassungskonform sei lediglich die Anwendung von PG-E2-Vaginalgel in Terminnähe bei reifem Zervixbefund. Misoprostol ist nach Kaiserschnitt absolut kontraindziert.

„Therapeutische Lücken“

Außerdem heißt es in der abgelaufenen Leitlinie, dass „eine zunehmende Ausweitung der Kontraindikationen“ in den Fachinformationen „therapeutische Lücken“ entstehen lässt, „die den anwendenden Arzt auf seine Erfahrung und das aufklärende Gespräch mit seiner Patientin verweisen“. Die Leitlinien sollten dazu einen Handlungskorridor darstellen.

Medikamente zur Geburtseinleitung

Nach der „SOP Geburtseinleitung“, aus Frauenheilkunde up2date 2018, von Prof. Dr. med. habil. Sven Kehl sind/(waren*) folgende Arzneimittel zur Geburtseinleitung möglich: 

  • Oxytocin: zugelassen zur Geburtseinleitung bei einem reifen Zervixbefund
  • Dinoproston (Prostaglandin E2): intrazervikale und vaginale Gabe zugelassen, jedoch ist die intrazervikale Gabe der vaginalen Applikation unterlegen
  • Misoprostol (Prostaglandin-E1-Analogon): oral im Off-label-Use anwendbar, als Insert* bei unreifer Zervix ab der 37. SSW zugelassen.“

Zu Misoprostol hieß es schon damals, dass eine große Anzahl von randomisierten Studien mit Misoprostol zur Geburtseinleitung existiert. Aus Metaanalysen ergebe sich die Möglichkeit der Geburtseinleitung mit 25 µg intravaginal alle (4-)6h, Oxytocin darf dann frühestens 4 h nach der letzten Misoprostol-Applikation gegeben werden, heißt es.

Misoprostol zur Geburtseinleitung soll in der neuen Leitlinie empfohlen werden

Ebenfalls von 2010 und seit 2013 in der Überarbeitung befindet sich die Leitlinie „Schwangerenbetreuung und Geburtseinleitung bei Zustand nach Kaiserschnitt“. Dort wird das Uterusrupturrisiko bei Geburtseinleitung mit Wehenmitteln so eingeteilt: Oxytocin < Prostaglandine < Prostaglandin-Insert < Misoprostol. Jedoch sei auch unter Oxytcoin das Rupturrisiko erhöht.

Am längsten gültig – bis Februar 2019 – war noch die Leitlinie „Vorgehen bei Terminüberschreitung und Übertragung“. Die Autoren dieser Leitlinie empfehlen ab 41+0 SSW eine Geburtseinleitung anzubieten, spätestens ab 41+3 SSW zu empfehlen. Auf die Art der Geburtseinleitung selbst wird dort aber nicht eingegangen.

„Sehr heterogenes Vorgehen in Deutschland“

So richtig schlau schien man aus diesen drei Leitlinien also nicht zu werden. Das hat offenbar auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG) erkannt und am 31. März 2018 ein Leitlinienvorhaben mit dem Titel „Geburtseinleitung“ angemeldet – geplante Fertigstellung: 31. März 2020. Die Begründung dafür lautet: „Eine der häufigsten Maßnahmen im geburtshilflichen Alltag. Ausreichend vorliegende Evidenz, jedoch sehr heterogenes Vorgehen in Deutschland.“ Die neue Leitlinie soll in Zukunft alle drei vorhergenannten ersetzen.

Ist die aktuelle Problematik also bald gelöst – und ein neues zugelassenes Präparat kommt auf den Markt, das dann auch in den neuen Leitlinien empfohlen wird?

„Die Evidenz ist unstrittig“

Auf die kommende Leitlinie zur Geburtseinleitung der DGGG, der SGGG (Schweizer Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) und der OEGGG (Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) bezieht sich auch die Stellungnahme der DGGG zur Berichterstattung über „Cytotec zur Geburtseinleitung“ vom 13. Februar: 

Nach Sichtung der Literatur werde die Verwendung von Misoprostol zur Geburtseinleitung in der DACH-Region im Einklang mit den anderen internationalen Leitlinien (z. B. USA, Kanada, Großbritannien und Frankreich sowie der FIGO (International Federation of Gynaecology and Obstetrics) und der Weltgesundheitsorganisation) in der Leitlinie empfohlen werden, heißt es. Insgesamt zeigt man sich angesichts der Datenlage „irritiert“ über die aktuelle einseitige Berichterstattung. Sie werde zu einer unnötigen und gefährlichen Verunsicherung der Schwangeren und Fachkräfte führen. Ganz deutlich heißt es in der Stellungnahme zudem:


Die Evidenz ist unstrittig: Der Wirkstoff Misoprostol ist das effektivste Medikament zur Geburtseinleitung und führt vor allem bei der oralen Anwendung zu weniger Kaiserschnitten als mit anderen Medikamenten (Dinoproston, Oxytocin).“

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG) 


Die Behauptung, dass sich die Ärzte hierbei lediglich auf „Erfahrungswerte und Anwendungsbeobachtungen stützen“, sei falsch. Es gebe keinen Wirkstoff zur Geburtseinleitung, der ähnlich gut in Studien untersucht wurde. Fast alle Perinatalzentren höchster Ordnung sollen den Wirkstoff verwenden – allerdings in einem Präparat geringerer Dosierung als „Cytotec 200“.

Misoprostol auf der Liste der essentiellen Medikamente der WHO

Eine der aktuellsten Informationen zur Geburtseinleitung unter Misoprostol bzw. Cytotec (vor den aktuellen Stellungnahmen zu den Medienberichten) findet man im Internet von der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Im „Expertenbrief No 63“ vom 31. Juli 2019 mit dem Titel „Misoprostol zur Geburtseinleitung“, wird schnell deutlich, dass am Wirkstoff Misoprostol in der Geburtshilfe laut Experten nichts auszusetzen ist. So wird auch dort – wie in Deutschland – auf die Marktrücknahme des Vaginalinserts Misodel von Ferring im Herbst 2019 verwiesen, allerdings heißt es dort, dass es „gemäß Swissmedic bis zum Ablaufdatum 2021 noch verwendet werden“ kann. 

Auch Cytotec ist demnach in der Schweiz nur für die „Magen-Indikation“ zugelassen und ist dort aufgrund seiner stark kontraktilen Wirkung auf den Uterus für Schwangere kontraindiziert. Allerdings habe die Swissmedic den therapeutischen Einsatz in der Geburtshilfe seit Jahren anerkannt „und z.B. im Zusammenhang mit 1. Trimester Schwangerschaftsabbrüchen Misoprostol als akzeptiertes Einleitungsmedikament zugelassen (Beipackzettel Mifegyne)“. 

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Dem Expertenbrief ist außerdem zu entnehmen, dass die WHO Misoprostol „aufgrund des guten Wirkungs-Nebenwirkungsprofils bei geburtshilflichem Einsatz, der guten Haltbarkeit bei Zimmertemperatur und der niedrigen Kosten und damit guten Verfügbarkeit auf die Liste der essentiellen Medikamente gesetzt“ hat.

Fehlender Nachweis der Sicherheit?

Und auch laut dem Expertenbrief könnte Misoprostol sogar Vorteile gegenüber den bisher zur Geburtseinleitung zugelassenen Prostaglandinen haben: Es sei in zahlreichen randomisierten Studien mit über 30.000 eingeschlossenen Schwangeren mit Prostaglandin E2 verglichen und als etwas effizienter (höhere Rate an vaginalen Geburten, geringere Sektiorate) befunden worden. Im Gegensatz zum Prostaglandin E2 habe Misoprostol keine bronchokonstriktorische Wirkung und könne bei Patientinnen mit Asthma angewendet werden.

Allerdings wird auch darauf verwiesen, dass die behördliche Zulassung des Misoprostol-Präparats Angusta, dass beispielsweise in Frankreich zugelassen ist, stark eingeschränkt ist: „Es darf ausschließlich oral verwendet werden in einer Dosierung von 25 µg alle 2 Std. oder 50 µg alle 4 Std (max. 200 µg in 24 Std), nur in der Klinik, und nur wenn andere Einleitungsmethoden nicht zur Verfügung stehen. Begründet wird die starke Restriktion in Frankreich durch den fehlenden Nachweis der Sicherheit von Angusta 25 µg (alle klinischen Daten stammen von Cytotec oder anderen Misoprostol-Präparaten) im Vergleich zu den zugelassenen Prostaglandin E2 Präparaten Propess und Prostin.“ Die Bioäquivalenz mit Cytotec sei nie nachgewiesen worden.

Das Fazit des Expertenbriefs lautet schließlich: Misoprostol „ist etwas wirksamer bei weitgehend identischem Risikoprofil und besserer Wirtschaftlichkeit.“

„Gravierende Nebenwirkungen“ unabhängig vom Medikament 

Letztendlich müsse immer daran erinnert werden, dass unabhängig vom verwendeten Medikament für Geburtseinleitungen in seltenen Fällen gravierende Nebenwirkungen für Mutter und Kind auftreten können. Die Verwendung von Kontraktionsmittel solle deshalb ausschließlich stationär in einer Klinik und unter entsprechenden Überwachungs- und Vorsichtsmaßnahmen erfolgen.

Die DGGG schrieb in ihrer aktuellen Stellungnahme zum Punkt der Sicherheit: 


Wir können aus den Daten entgegen der Berichterstattung schlussfolgern, dass Frauen, die zur Geburt eingeleitet werden (und keine Gebärmutteroperation in der Anamnese haben) sogar ein niedrigeres Risiko für schwere Komplikationen erleiden. Hinsichtlich der kindlichen Komplikationsraten muss immer das Risiko berücksichtigt werden, das zur Einleitung geführt hat.“

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG) 


Auch ein Cochrane Review aus dem Jahr 2014 (75 relevante Studien mit insgesamt fast 14.000 Teilnehmerinnen) kommt laut einer Pressemitteilung von Cochrane Deutschland zu dem Schluss, dass das Profil von Wirkung und Risiken von Misoprostol mit dem anderer gängiger Wirkstoffe vergleichbar ist. Allerdings: 


Zu der Frage von extrem seltenen, gravierenden Nebenwirkungen von Misoprostol kann der Review nur wenig beitragen. Das liegt daran, dass diese selbst unter den 14.000 Studienteilnehmerinnen zu selten auftraten, um valide Aussagen zu Häufigkeiten ableiten zu können. Die Autoren rechnen hoch, dass hierfür eine doppelt bis zehnmal so große Studienpopulation nötig wäre.“ 

Pressemitteilung der Cochrane Deutschland Stiftung (CDS)


Abschließend ist anzumerken, und darauf verweist auch Cochrane, dass Off-Label-Use beispielsweise im Bereich der Kinderheilkunde weit verbreitet ist, wo dezidierte pädiatrische Zulassungsstudien aus ethischen und finanziellen Gründen eher selten sind. 

In Teil 3 dieser Textreihe wird DAZ.online sich der Rolle der Krankenhausapotheken im Fall Cytotec widmen.



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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