Corona-Pandemie

Kritiker drängen auf eine Änderung der Strategie

Dresden - 24.11.2020, 13:45 Uhr

„Legt man die Prävalenz von 1 Prozent aus der Gesamterfassung der Bevölkerung der Slowakei zugrunde, erhält man für Deutschland gegenüber 130.000 bekannten Meldungen in einer Woche weitere 815.000 Infektionen in der nicht-getesteten Bevölkerung“, schreiben die Autoren in ihrem neuesten Thesenpapier. (c / Foto: realstock1 / stock.adobe.com)

„Legt man die Prävalenz von 1 Prozent aus der Gesamterfassung der Bevölkerung der Slowakei zugrunde, erhält man für Deutschland gegenüber 130.000 bekannten Meldungen in einer Woche weitere 815.000 Infektionen in der nicht-getesteten Bevölkerung“, schreiben die Autoren in ihrem neuesten Thesenpapier. (c / Foto: realstock1 / stock.adobe.com)


Neun Autoren monieren das Fehlen von Kohortenstudien, die Qualität der Daten und die Vernachlässigung wesentlicher Aspekte wie der Dunkelziffer an Infizierten. Wenn jetzt nichts geändert werde, könne sich auch das Impfen schwierig gestalten, heißt es in einem aktuellen Thesenpapier.

Es ist das nunmehr sechste Thesenpapier zur Corona-Situation, das eine Autorengruppe seit März vorlegt, „wegen der zunehmenden Komplexität des Themas“ soll es dieses Mal sogar in drei Teilen veröffentlicht werden. Allein der erste Teil umfasst knapp 50 Seiten. „Anlass für ein neuerliches Papier gibt es mehr als genug“, schreiben die neun Verfasser, darunter Prof. Gerd Glaeske, Apotheker und ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit. Denn die Zahlen der Infizierten stiegen zwar langsamer, aber es sei unklar, ob die Situation anhaltend besser wird. „Und der Winter steht immer noch bevor.“ Die Autoren sehen es deshalb als „wissenschaftliche und fachliche Pflicht, nochmals auf die Notwendigkeit einer Änderung der Strategie hinzuweisen.“ Demnach müssten die Vorgehensweisen der vergangenen Monate unvoreingenommen auf den Prüfstand gestellt werden. 

Eines der Probleme, das die Autoren sehen, ist die Dunkelziffer an Infizierten in der nicht-getesteten Population. Sie sei deutlich größer als die bekannte Melderate. „Legt man die Prävalenz von 1 Prozent aus der Gesamterfassung der Bevölkerung der Slowakei zugrunde, erhält man für Deutschland gegenüber 130.000 bekannten Meldungen in einer Woche weitere 815.000 Infektionen in der nicht-getesteten Bevölkerung.“ Den Richt- und Grenzwerten, die auf den Meldungen der Infektionen nach Testungen beruhen, könne deshalb keine tragende Bedeutung zukommen. „Die derzeit verwendeten Grenzwerte ergeben ein falsches Bild und können nicht zu Zwecken der Steuerung und für politische Entscheidungen dienen.“ Somit seien auch Zielvorgaben, wie „wir müssen wieder unter 50 Infektionen auf 100.000 Einwohner kommen“, unrealistisch.

Problematisch sehen die Autoren zudem die Zahlen zur Intensivkapazität. Zwar sei die Zahl der Intensivpatienten mit COVID-19 deutlich gestiegen, wodurch die freien Kapazitäten auf den Intensivstationen sinken. „Allerdings ist parallel ein absoluter Abfall der Gesamtintensivkapazität in Deutschland zu beobachten.“ Dieser habe einen großen Anteil an der Abnahme der freien Intensivbetten, der Effekt sei mit den zur Verfügung stehenden Daten nicht erklärbar, „eine Analyse auf politischer Ebene erscheint notwendig.“ Wichtig sei aber auch, positive Entwicklungen in der Pandemie zu betrachten, etwa die sinkenden Hospitalisierungs- und Beatmungsraten, und die abnehmende Mortalität. 

Zwei Steuerungselemente sollen Melderate aussagekräftiger machen

Was schlagen die Autoren vor? Sie drängen nach wie vor auf prospektive Kohorten-Studien. Diese müssten zufällig ausgewählte Bevölkerungsstichproben umfassen, die regelmäßig auf das Neu-Auftreten einer Infektion mit SARS-CoV2/COVID-19 untersucht werden. „Kohorten-Studien erlauben zentrale Aussagen zur Häufigkeitsentwicklung, zu den Infektionswegen, zur Symptomatik und zu den Risikogruppen. Weiterhin sind Kohorten-Studien unerlässlich, um Impfkampagnen zu planen und zu bewerten.“ Es gebe nur ein einziges Land, das früh genug mit Kohorten-Studien begonnen hat: Island. 

Weil es bisher keine Kohortenstudien gibt, regen die Autoren zwei neue Steuerungsinstrumente an.  Diese könnten zwar nicht auf die Melderate verzichten, „den fehleranfälligen Wert jedoch durch andere Parameter aussagekräftiger machen.“ Eines der Instrumente ist der sogenannte „notification index“ (NI). Er beschreibt die Dynamik der Entwicklung auf nationaler oder regionaler Ebene, „und setzt die Melderate und die Rate positiver Testbefunde zur Testhäufigkeit und zu einem einfachen Heterogenitätsmarker in Bezug und erlaubt es, den Bias zum Beispiel durch die Testverfügbarkeit oder durch das Auftreten eines einzelnen großen Clusters auszugleichen.“ Der zweite Index ist der Hospitalisierungs-Index (HI). Er soll die Belastung des Gesundheitssystems in einer Region beschreiben und „sich als Produkt von NI und der Hospitalisierungsrate“ errechnen.  

Abstand und Nachverfolgung als Präventionsmaßnahmen

Ein weiterer notwendiger Schritt, so heißt es seitens der Autoren, sei ein zeitgemäßes Konzept der Prävention. Die Präventionsmaßnahmen wie Abstand und Nachverfolgung sollten um den Schutz der besonders von den Folgen der Infektion betroffenen Bevölkerungsgruppen ergänzt werden. Werde die Diskussion um die Priorisierungskriterien weiter vermieden, „wird uns diese Blockade spätestens bei der Priorisierung der Impfung wieder auf die Füße fallen.“ Denn „wie soll man die große Gruppe der ,Alten‘, die unsere Gesellschaft nun mal umfasst, hinsichtlich des Zugangs zur Impfung spezifisch und zielgerichtet einteilen, wenn man schon heute den Schutz der Verletzlichen nicht herstellen kann, und zwar in einer Form, in der Würde und Humanität gewahrt bleiben? Müssen wir uns Sorgen um die Stimmung in den Warteschlangen vor den Impfzentren machen?“ 

Gleichzeitig sehen die Autoren, wie sie schreiben, die Schwierigkeit des politischen Handelns in der gegenwärtigen Situation. Sie heben – wie bereits in ihrem ersten Thesenpapier – hervor, „dass es nicht um Kritik um ihrer selbst willen geht, sondern um einen konstruktiven Vorschlag zur Neugestaltung des Vorgehens.“ Es gehe auch jetzt nicht um Rechthaberei, sondern um die Bewältigung einer Krisensituation. „Das wichtigste und auch klügste in einer solchen Situation sollte es sein, zuzuhören und sich ergebnisoffen mit den unterschiedlichen Standpunkten zu beschäftigen. Sollte diese Fähigkeit in dieser Krise verloren gehen, dann wäre ein gesellschaftlicher Schaden eingetreten, der kaum wieder gutzumachen wäre. Wir hoffen, dass es nicht so weit kommt und dass eine Umkehr zunächst auf der Ebene der Kommunikation möglich ist.“ 

Mängel in der Zuverlässigkeit der Erhebung

Die Verfasser des Papiers hatten zuletzt im Oktober und vor dem Beschluss des aktuellen Teil-Lockdowns eine Ad-hoc-Stellungnahme verfasst. Darin kritisierten sie unter anderem die Verschärfung der Grenzwerte auf 35/100.000 Einwohner. Es gebe keine Daten, die aussagen, „dass mit einem Grenzwert von x/100.000 Einwohner ein positiver Verlauf der Epidemie oder eine erfolgreiche Intervention verbunden ist“, hieß es. Zwar könne man mit solchen Zahlen arbeiten, „vielleicht muss man sie unter dem Druck der Ereignisse sogar einfach setzen – aber was auf keinen Fall zu tolerieren ist, ist eine schlechte Reliabilität, also eine mangelnde Stabilität gegenüber Mess- und Erhebungsfehlern. Diese Mängel in der Zuverlässigkeit der Erhebung geben Anlass zu größten Bedenken, vor allem wenn man sich die Konsequenzen vor Augen führt, die mit einem Überschreiten der Grenzwerte verbunden sind.“ 

Zu den Autoren des sechsten Thesenpapiers gehören Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Hedwig François-Kettner, Dr. med. Matthias Gruhl, Prof. Dr. jur. Dieter Hart, Franz Knieps, Prof. Dr. rer. pol. Philip Manow, Prof. Dr. phil. Holger Pfaff, Prof. Dr. med. K. Püschel und Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske. Die zwölf aktuellen Thesen der Autoren und das vollständige Papier können Sie hier nachlesen.



Anja Köhler, Freie Journalistin
redaktion@daz.online


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