DAZ.online-Miniserie „Jüdische Apotheker“ (4)

Versuche der Wiedergutmachung

Berlin - 18.08.2018, 07:55 Uhr

Im Zweiten Weltkrieg verloren auch viele jüdische Apotheker ihr Leben, in den Trümmern wurden viele Apotheken zerstört. Teil 4 der DAZ.online-Miniserie über jüdische Apotheker dreht sich um die Frage, wie es für die Überlebenden Pharmazeuten weiterging. ( r / Foto: Imago)

Im Zweiten Weltkrieg verloren auch viele jüdische Apotheker ihr Leben, in den Trümmern wurden viele Apotheken zerstört. Teil 4 der DAZ.online-Miniserie über jüdische Apotheker dreht sich um die Frage, wie es für die Überlebenden Pharmazeuten weiterging. ( r / Foto: Imago)


Das Grauen des Holocausts vernichtete das Leben vom mehr als sechs Millionen Juden. Tausende waren vor Ausgrenzung und Verfolgung geflohen. Sie hatten ihre Heimat verlassen müssen. Kann es angesichts dieses Unrechts überhaupt ansatzweise eine Wiedergutmachung geben? Teil 4 der DAZ.online-Miniserie „Jüdische Apotheker“ zeichnet die Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach.   

Das Ende des Zweiten Weltkrieges war zugleich das Ende der Nazi-Diktatur – doch noch nicht das Ende des Grauens. Was die Alliierten in den Wochen nach Kriegsende in den befreiten Konzentrationslagern sahen, lässt sich kaum beschreiben. Die Überlebenden waren häufig dem Tod näher als dem Leben. Viele starben noch kurz nach der Befreiung. Unverständlich bleibt für nachfolgende Generationen, dass die Bevölkerung, die in der Umgebung der KZs gelebt hatte, häufig angab, nichts von den Geschehnissen in ihrer Nachbarschaft gewusst zu haben. Die US-Befehlshaber konfrontierten damals Einheimische mit dem Gräuel und denselben Schreckensbildern, die auch die Alliierten bei der Befreiung in den Konzentrationslagern vorfanden. Das „Wegsehen“ sollte nicht mehr möglich sein.

Samuel Fuller, der spätere US-Schauspieler und Filmregisseur, war als US-Infanterist Augenzeuge der Befreiung des KZs Falkenau (Flossenbürger Außenlager): „Die meisten von uns kannten jede Art von Wahnsinn im Krieg. Aber das, was wir hier sahen, übertraf alles.“

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DAZ.online-Miniserie „Jüdische Apotheker“ (3)

Geschichten von Flucht und Vernichtung

Überlebt – und dann?

Eine kleine Anzahl jüdischer Apotheker überlebte in Deutschland die Verfolgungen im Nationalsozialismus und wurden nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges aus Zwangsarbeit und Konzentrationslagern befreit. Für sie stellte sich die Frage, ob sie für sich noch eine Perspektive in Deutschland sahen und ob sie überhaupt bleiben wollten. Keine leichte Entscheidung. Zudem war die wirtschaftliche und politische Situation im Nachkriegsdeutschland ungewiss und die judenfeindliche Haltung vieler in Deutschland ungebrochen. 

Frank Leimkugel beschreibt in seinem Buch „Wege jüdischer Apotheker“, dass damals in Berlin ein Mangel an politisch unbelasteten Mitarbeitern in Ämtern und Behörden herrschte. So wurden auch für die Gesundheitsämter Fachleute gesucht. Einige der jüdischen Apotheker wurden – da politisch unverdächtig – übergangsweise in diesen Ämtern eingesetzt. Eine weitere Beschäftigungsmöglichkeit ergab sich für die Überlebenden in verwaisten Apotheken. Häufig genug hatten deren letzte Besitzer während der NS-Zeit von den „Arisierungswellen“ profitiert und waren schließlich in den Wirren der letzten Kriegstage ums Leben gekommen oder hatten sich aus Angst vor der Zukunft das Leben genommen.

So arbeiteten auch der zur Zwangsarbeit gezwungene Alexander Fraenkel (1891-1956), der das KZ Theresienstadt überlebende Dr. Georg Cohn (1879-1952) und der aus dem KZ Sachsenhausen zurückgekehrte Arthur Jacobsohn (1879-?) für die Alliierten als pharmazeutische Sachbearbeiter in unterschiedlichen Gesundheitsämtern Berlins. Welchen Wirrnissen die Überlebenden damals ausgesetzt waren, zeigt auch das Beispiel von Richard Rudolphson (1877-1960). Rudolphson war rein zufällig an einer verwaisten Apotheke im Berliner Stadtteil Lichtenrade vorbeigekommen, als ihm russische Soldaten ohne Umschweife die Leitung der Apotheke übertrugen. Der pure Zufall – und das kurzentschlossene Handeln der Russen – verhalf Rudolphson damals zu einer neuen Perspektive.  

Rückkehr nach Deutschland

Tausende Juden hatten sich vor den Verfolgungen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates ins Ausland gerettet. Nach Kriegsende standen sie vor der Frage der Rückkehr nach Deutschland. Doch nur wenige entschieden sich letztlich für ein erneutes Leben in Deutschland. Etwa 5 Prozent der ungefähr 500.000 Juden, die aus dem deutschsprachigen Raum ausgewandert waren, kehrten zurück. Der kleinere Teil remigrierte zwischen 1945 und 1952. Der größere Teil kehrte erst zwischen 1952 und 1959 zurück. Der Remigrationswille war abhängig von verschiedenen Faktoren. Je besser die Migranten in den Aufnahmeländern beruflich und kulturell integriert waren, desto geringer die Rückkehrerrate. Außerdem spielten emotionale Gründe eine wichtige Rolle. Die Sehnsucht nach Deutschland musste groß genug gewesen sein.  

Die Rückkehrer entschieden sich unter anderem dann für Deutschland, wenn sie für sich eine gute berufliche Zukunft in ihrem alten Heimatland sahen. Doch nicht immer erfüllten sich diese Hoffnungen. Hinzu kamen die psychischen Belastungen, wieder potentiellen ehemaligen Nationalsozialisten gegenüberstehen zu müssen. So verstarb der jüdische Apotheker Joseph Altmann (Posen 1883-1960 Göttingen) letztlich in einer Nervenklinik, in der er die letzten Monate seines Lebens aufgrund unverarbeiteter Erlebnisse im KZ Sachsenhausen verbringen musste. Andere wiederum legten in ihrem Testament fest, dass sie nach ihrem Tod in der alten Heimat bestattet werden wollten – und nicht im unfreiwillig gewählten Exil. Insgesamt verblieben vor allem diejenigen im neuen Heimatland, die in die USA und nach England ausgewandert waren. Dort war die private und berufliche Integration am reibungslosesten erfolgt.

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Der lange Weg der Emanzipation

Versuche eines Ausgleichs – und einer (Teil-)Wiedergutmachung

Wiedergutmachung ist ein problematischer Begriff, denn es wird immer nur eine teilweise „Wiedergutmachung“ möglich sein. Oder mit anderen Worten: Es kann nie wieder ganz „gut“ sein. Dennoch sollten die Opfer soweit möglich einen Ausgleich für das Nicht-Wiedergutmachbare erhalten. Die Versuche des Ausgleichs für erlittenes Unrecht erstreckten sich im Wesentlichen auf folgende Bereiche: Rückerstattung von Vermögenswerten, Entschädigungszahlungen für Eingriffe in die Lebenschancen, juristische Rehabilitierung nach zum Beispiel zu Unrecht aberkannter akademischer Grade und Entschädigung auch für ausländische NS-Opfer mittels zwischenstaatlicher Abkommen. 

Rückerstattung von Apotheken

An jüdische Apotheker, die den Nationalsozialismus in Deutschland überlebt hatten, und an die wenigen nach Deutschland zurückgekehrten Pharmazeuten wurden bevorzugt Apothekenkonzessionen verliehen. Diese erhielten sie als „Opfer des Faschismus“ im Rahmen von Wiedergutmachungsbemühungen. Gleichzeitig bereitete die Rückgabe der nur unter dem Druck der antisemitischen Gesetzgebung im Nationalsozialismus verkauften Apotheken juristische Schwierigkeiten. Da die Unrechtmäßigkeit dieser Rechtsgeschäfte erst festgestellt werden musste und dies den Opfern häufig aufgrund der geschichtlichen Ereignisse schlicht nicht möglich war. Viele Rückerstattungsverfahren wurden deshalb erst Anfang der 50er-Jahre entschieden.

Rückerstattete Apotheken wurden jedoch nicht immer von den Besitzern wieder selbst betrieben. Einige Apotheker blieben im Ausland und verkauften im Anschluss an die Rückgabe ihre Apotheke. Andere wiederum entschieden sich gegen einen Verkauf und zogen stattdessen eine Verpachtung vor. Für den Fall, dass der ehemalige Besitzer nicht mehr lebte, stand den Erben die Rückerstattung zu. Auch wenn keine Erben mehr ausfindig zu machen waren, fand ein Ausgleich statt. Die Kompensationen erhielt dann als Rechtsnachfolger die „Jewish Restitution Successor Organization“.

Der Fall des Apothekers B. – Entschädigungsverfahren in der Pharmazie

Der Fall des Apothekers B. ist ein gut dokumentierter. In den Jahren 1950 bis 1955 beschäftigte das Entschädigungsverfahren des Berliner Apothekers die Öffentlichkeit. Der jüdische Apotheker B. hatte 1933 die Verwaltung der Berliner Apotheke „Zum schwarzen Adler“ übernommen. Ein Jahr später schloss er für dieses Privileg einen zehnjährigen Pachtvertrag mit einer Verlängerungsmöglichkeit um weitere zehn Jahre ab. Da ab 1936 jüdischen Apothekern das Leiten von Apotheken untersagt war, verlor er den Pachtvertrag. Die NS-Zeit überlebte der in einer sogenannte „Privilegierten Mischehe“ lebende Pharmazeut durch Ausführung von Zwangsarbeit.

Nach Kriegsende übernahm B. die Verwaltung der Utrechter Apotheke in Berlin-Wedding. Einige Zeit später wurde er Pächter dieser Apotheke. Nach dem Tod der Inhaberin der Personalkonzession, mussten die Verwaltungsbehörden über die Neuvergabe entscheiden. Laut Bundesentschädigungsgesetz stand B. die Wiederaufnahme der alten Tätigkeit oder eine entsprechende Tätigkeit zu. Doch dem standen die Regelungen der Konzessionsvergabe entgegen. Bei ansonsten gleichen Voraussetzungen sollte das höhere „Betriebsberechtigungsalter“ der Bewerber entscheidend sein und B. stand so nur an 34. Stelle der Bewerber. Mehrere Jahre musste er dafür kämpfen, bis schließlich im Entschädigungsverfahren entschieden wurde, dass sein Entschädigungsanspruch rechtmäßig war und er Vorrang vor allen anderen Bewerbern hatte, die lediglich nur eine Anwartschaft auf die Betriebsrechte hatten, aber im Gegensatz zu B. keinen Rechtsanspruch. 

Gegen das Vergessen – Stolpersteine des Gedenkens

Als Mahnung gegen das Vergessen werden seit 1996 die sogenannten Stolpersteine an die ehemaligen Wohnorte von Opfern des Holocausts verlegt. Stolpersteine dienen dem Gedenken. Das seit 1996 existierende Projekt des Künstlers Gunther Demning wendet sich gegen das Vergessen und lässt ansonsten ahnungslos gebliebene Passanten im übertragenen Sinne über fremde Schicksale stolpern. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitiert Gunter Demnig auf der Website „Stolpersteine“ den Talmud. Die kleinen Messingtafeln werden jeweils niveaugleich zum Straßenbelag eingelassen. Im Mai 2018 gab es rund 69.000 Stolpersteine, die außer in Deutschland auch in 23 weiteren europäischen Ländern verlegt sind.  

Stolperstein für den jüdischen Apotheker Adolf Mockrauer. (Foto: Inken Rutz)

Der am 16. Juni 2018 vor der ehemaligen Albrecht-Dürer-Apotheke in Berlin-Britz gesetzte Stolperstein erinnert an das Schicksal des jüdischen Apothekers Adolf Mockrauer. Der beliebte Apotheker konnte ab 1936 nach Inkrafttreten des „Gesetzes über die Verpachtung und Verwaltung öffentlicher Apotheken“  seine Apotheke nicht mehr selbst leiten. Allerdings erhielt er die Möglichkeit, unter dem nun eingesetzten Pächter in der Apotheke weiterzuarbeiten. In der Reichspogromnacht im November 1938 wurde er Opfer einer Schlägertruppe der SA, die die Apothekeneinrichtung zertrümmerte und ihn zusammenschlug. Mockrauer entschloss sich daraufhin zur Flucht nach Chile, wo er sich 1940 aus Verzweiflung das Leben nahm. Auf seinem Stolperstein steht: „Hier wohnte Adolf Mockrauer. JG. 1868. Flucht 1939. Chile. Flucht in den Tod. 16.9.1940.“

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Umgang mit den Opfern der Shoah in Israel

Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus ist tragender Teil des Geschichtsbewusstseins und der Erinnerungskultur in Israel. Der Shoah wird in Israel eine zentrale Stellung beigemessen. Shoah („Katastrophe“, „großes Unglück“)  ist der in Israel und von Juden bevorzugte Begriff für die Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus. Doch wie angemessen mit der Ermordung von sechs Millionen Menschen umgehen? Kaum ein Thema ist so emotional – und schwierig. Heute gibt es in Israel etwa zehn Shoahgedenkstätten, viele Denkmäler und unzählige Gedenksteine. Das Spektrum der Gedenkformen in Israel ist weit gefächert und reicht vom privaten bis zum öffentlichen und offiziellen Gedenken.

Trotzdem droht auch in Israel das Gedenken an die Shoah mit wachsendem zeitlichem Abstand an Bedeutung einzubüßen. Gruppen junger Israelis protestierten daraufhin vermehrt und wehrten sich gegen die Unkenntnis ihrer Generation zu diesem Thema. Vielfältig und gleichzeitig kontrovers ist der Umgang mit der Shoah in Israel. Die Shoah wird dennoch nie vergessen sein – zu tief ist sie in dem Bewusstsein der Menschen verankert. Das Gedenken ist wichtig – nicht nur in Israel.

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Die Artikel-Serie „Jüdische Apotheker“ der DAZ.online bezieht sich unter anderem auf das Buch von Frank Leimkugel „Wege jüdischer Apotheker“ bezüglich der Situation in Deutschland und auf die Arbeit von Esther Hell „Jüdische Apotheker im Fadenkreuz“, das die Situation jüdischer Pharmazeuten in Hamburg analysiert. Exemplarische Schicksale jüdischer Apotheker werden auf Basis der bereits benannten Quellen und einzelner im Internet verfügbarer Quellen beschrieben.

Die Datenlage zur Situation jüdischer Apotheker in Deutschland rund um die NS-Zeit – Zeitraum der DAZ.online-Miniserie – ist allgemein lückenhaft. Bedingt durch die geschichtlichen Ereignisse sind Akten und Schriftstücke der damaligen Behörden und betreffenden Organisationen im größeren Umfang vernichtet worden bzw. verschollen. Den Arbeiten von Leimkugel und Hell liegen unter anderem die Auswertungen vorhandener Dokumente verschiedener Landes- und Stadtarchive, einzelner Archive zur pharmazeutischen Geschichte, des Leo Baeck Institutes zur Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums, des Amtes für Wiedergutmachung und der Entschädigungsbehörde Berlin zugrunde.



Inken Rutz, Apothekerin, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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