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Klaus Michels zum EuGH-Urteil 2016
Eine konsequente Preisbindung ist unabdingbar
In den meisten EU-Staaten gibt es keinen Rx-Versandhandel und gelten für Arzneimittel feste Preise. Vor diesem Hintergrund „muss man dieses Urteil wohl als skandalös bezeichnen“, sagt Klaus Michels im Rückblick auf die EuGH-Entscheidung vom 19. Oktober 2016. Michels war bis Anfang September Vorsitzender des Apothekerverbands Westfalen-Lippe. Nach seinem überraschenden Rücktritt äußert er sich nun gegenüber der DAZ erstmals wieder öffentlich.
Der Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL) ist einer der größten Apothekerverbände Deutschlands. In der Region gibt es rund 2.000 öffentliche Haupt- und Filial-Apotheken. Dr. Klaus Michels war seit 1991 Mitglied des Vorstands und stand seit dem Jahr 2007 an der Spitze des AVWL bis er Anfang September dieses Jahres überraschend von seinem Amt zurücktrat. Sein Nachfolger ist seitdem Thomas Rochell, der seit 2003 AVWL-Vorstandsmitglied ist.
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Michels sah die Reformpläne der Bundesregierung für den Apothekenmarkt nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2016 stets kritisch. Gemeinsam mit den anderen drei Apotheker-Organisationen in Nordrhein-Westfalen beauftragte er beispielsweise ein juristisches Gutachten, in dem es um die Bedeutung der Gleichpreisigkeit für die gesamte Arzneimittelversorgung geht. Auch die Haltung der ABDA kritisierte Michels: In einem ausführlichen Brief forderte er den damaligen ABDA-Präsidenten Friedemann Schmidt auf, auf die Beibehaltung des Rx-Boni-Verbots in § 78 des Arzneimittelgesetzes zu bestehen.
Rund einen Monat nach seinem Rückzug aus der aktiven Standespolitik äußert sich Klaus Michels nun gegenüber der DAZ nochmal detailliert über seine Ansichten – zum EuGH-Urteil, zum Rx-Versandverbot, zur Apothekenreform und zur Perspektive des Berufsstandes im Zeitalter der E-Rezepte und pharmazeutischen Dienstleistungen. Zu den persönlichen Gründen für seinen Rücktritt möchte er sich allerdings nicht äußern. Nur so viel: Als Teil der Verhandlungskommission wird er auch weiterhin im Deutschen Apothekerverband aktiv und präsent bleiben.
DAZ: Herr Dr. Michels, Sie haben nicht nur den Richterspruch, sondern auch die Aktivitäten des Gesetzgebers immer wieder offensiv kritisiert. Ist dieses ganze Kapitel für uns Apotheker getreu dem Motto „Zuerst kein Glück gehabt, dann kam Pech hinzu“ verlaufen?
Michels: Ich glaube „Pech“ ist nicht der richtige Begriff. Der EuGH hat schon seit längerer Zeit Urteile gefällt, die man kaum nachvollziehen kann.
Gehen wir mal chronologisch vor: Mit welcher Performance ist Ihrer Meinung nach die Apothekerschaft, insbesondere die ABDA, in das EuGH-Verfahren zur Arzneimittelpreisbindung gestartet?
Bis 2016 hatte der EuGH eine sehr konsequente Linie verfolgt und den Mitgliedstaaten, den europäischen Verträgen folgend, weitgehend freie Hand gelassen, ihre Gesundheitssysteme in eigener Verantwortung zu organisieren. Diese Linie der Zurückhaltung und der Achtung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen hat der EuGH mit dem Urteil 2016 für Experten plötzlich und unerwartet völlig irrational verlassen. Natürlich könnte man im Nachhinein geneigt sein, in Kenntnis des Urteils nach Versäumnissen zu suchen. Aber was würde das helfen?
Zur Bedeutung der Arzneimittelpreisbindung und zu den Folgen von Rx-Boni wird aktuell im Auftrag des Apothekerverbands Westfalen-Lippe eine ökonomische Analyse durchgeführt. Hätte man dieses Thema nicht schon Jahre vorher wissenschaftlich evaluieren müssen, um bei möglichen Gerichtsverfahren fundierter argumentieren zu können?
Schon vor dem EuGH-Urteil hat es eine ganze Reihe von Gutachten gegeben, die sich mit den Auswirkungen der Preisfreigabe für Rx-Arzneimittel auseinandergesetzt haben. Wie bekannt, hatten diese nicht den erhofften Erfolg. An der Universität Gießen wird nun vom Team um den Volkswirtschaftler Professor Georg Götz eine ökonomische Analyse durchgeführt zur Frage, welche Auswirkungen die komplette Aufgabe der Preisbindung hätte. Dies wäre jedoch vor dem EuGH-Urteil in dieser Form kaum möglich gewesen. Denn wegen der bis dahin in Deutschland geltenden Gesetzeslage gab es gar keine Möglichkeit, die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Bonigewährung wissenschaftlich zu untersuchen. Dies ist bekanntlich heute anders. Im Übrigen ist im Rückblick nicht valide zu beurteilen, ob weitere Gutachten das EuGH-Desaster hätten verhindern können. Derzeit liegt das Ergebnis der Gießener Analyse zwar noch nicht vor. Sollte sie aber Nachweise erbringen, dass die Aufgabe der Preisbindung die flächendeckende Versorgung gefährden könnte, würde diese Untersuchung gewichtige Argumente liefern, um die uneingeschränkte Preisbindung künftig wiederherzustellen und zu verteidigen.
Urteil ist „skandalös“
DAZ: Was ist Ihre Hauptkritik am EuGH-Urteil?
Michels: Zunächst einmal, dass der EuGH mit seinem Urteil in eklatanter Weise das Subsidiaritätsprinzip verletzt und sich damit faktisch zu einer Art zweitem Gesetzgeber gemacht hat. Wenn man bedenkt, dass bis heute in der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten Arzneimittel der Preisbindung unterliegen, muss man dieses Urteil wohl als skandalös bezeichnen. Der Meinung, dass bei der Frage der Preisbindung von einer nationalstaatlichen Gesetzgebungskompetenz auszugehen ist, ist ja bekanntlich auch der BGH.
Wie haben Sie die unmittelbare Reaktion auf den Richterspruch erlebt, in den Wochen und Monaten danach? Was haben Ihnen Politikerinnen und Politiker signalisiert?
Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich am späten Vormittag als Patient im Wartezimmer unseres Krankenhauses gesessen habe, als die schlechte Nachricht der ABDA mich erreichte. So war ich zumindest in unmittelbarer Nähe guter ärztlicher Betreuung. Scherz beiseite. Mit diesem Urteil hatte auch in der Politik kaum jemand gerechnet. Wir haben in der Folge aus den Reihen der CDU und der Linken durchaus verbale Unterstützung für die logische Forderung nach dem Rx-Versandhandelsverbot bekommen. Nicht zuletzt hatte diese dann ja auch Eingang in den Vertrag der Großen Koalition gefunden. Dass dann ausgerechnet ein CDU-Gesundheitsminister diese Vereinbarung nicht durchgesetzt hat, enttäuscht mich ganz besonders.
Hat sich die ABDA Ihrer Meinung nach zu schnell von der Forderung nach einem Rx-Versandverbot gelöst?
In der Mitte der Legislaturperiode zeichnete sich ab, dass sich das Versandhandelsverbot nicht gegen den Widerstand in der SPD und der Opposition durchsetzen lassen würde. Am meisten enttäuscht hat mich in diesem Zusammenhang die Haltung der FDP. Das Wort „frei“ findet sich ja nicht nur im Namen der FDP, sondern auch im „freien Beruf“, zu dem sich nicht nur die Apotheker zählen. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Mittelstand und somit die freien Berufe einen ganz wesentlichen Beitrag zur Stabilität unserer Bundesrepublik leisten. Dies haben wir Apotheker in der Corona-Pandemie ganz besonders bewiesen. Deshalb sollten die freien Berufe um jeden Preis erhalten werden. Dazu benötigen sie wegen der strengen Reglementierungen und der Delegation staatlicher Verantwortung zwingend ausreichenden Schutz vor ausuferndem Wettbewerb.
Doch zurück zum Versandhandelsverbot. Ob man die Forderung noch einige Zeit hätte aufrechterhalten sollen, ist heute müßig. Was wir jedoch keinesfalls hätten akzeptieren dürfen, ist die Streichung von § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG und dessen Transplantation ins SGB V. Welche Folgenkaskade dies für unser bewährtes Gesundheitssystem haben wird, habe ich bereits im Sommer 2019 im Interview mit DAZ.online ausgeführt.
Darin haben Sie sich im August 2019 für ein „milderes Mittel“ ausgesprochen, also eine erneute Vorlage an den EuGH mit einem vollständigen Tatsachenvortrag, einer Revidierung des Urteils, um damit eine Rückkehr zur Rechtslage vor der Entscheidung des EuGH vom 19. Oktober 2016 zu erreichen. Warum war das für Sie der Königsweg? Wäre dies nach wie vor möglich?
Ich bin bis heute fest davon überzeugt, dass es eine gute Chance gegeben hätte, das Problem der Preisfreigabe für Rx über diesen Weg erneut dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen und das Urteil von 2016 umzukehren. Durch die Streichung des entscheidenden § 78 Absatz 1 Satz 4 AMG, der ja erst einige Jahre vor dem Urteil von 2016 aus gutem Grund in das AMG eingefügt worden war, und die Transplantation ins Sozialgesetzbuch wird das allerdings schwer. Denn dadurch gilt die Preisbindung nur noch für GKV-Versicherte. Indem sie die Preisbindung nur noch für einen Teil der Versicherten gelten lässt, hat die Politik für weitere Gerichtsverfahren all die guten Argumente für deren Erhalt nun selbst geschwächt.
Wie wichtig ist die Preisgleichheit heute?
DAZ: Die Corona-Pandemie brachte für die Apotheken neuartige Tätigkeiten hervor, deren Honorierungen vom Ministerium eher spontan und flexibel gehandhabt wurden. Darüber hinaus stehen die pharmazeutischen Dienstleistungen in Aussicht. Hat die Gleichpreisigkeit bezogen auf das konkrete Arzneimittel im deutschen Gesundheitssystem überhaupt noch die Bedeutung wie vor wenigen Jahren?
Michels: Ja unbedingt! Zunächst, weil einheitliche, gebundene Preise unerlässlich sind, um eine gerechte und zugleich qualitativ hochwertige Versorgung der Menschen zu sichern, in der Stadt und auf dem Land gleichermaßen, im Nacht- und Notdienst, bei Lieferengpässen – und Epidemien. Zum anderen, weil die pharmazeutischen Dienstleistungen zwar ein elementarer Bestandteil unserer künftigen Tätigkeit sind. Durch ein qualitativ hochstehendes Angebot wird sich die Apotheke gegen den Versandhandel behaupten können. Ob die Dienstleistungen allerdings die Vor-Ort-Apotheken nachhaltig wirtschaftlich stabilisieren können, wage ich zu bezweifeln. Schließlich lebt die Apotheke nicht vom Umsatz, sondern vom Ertrag. Und dazu müsste von Beginn an ein spürbarer Gewinnaufschlag auf die entstehenden Kosten garantiert sein. Auch müsste das Honorar wie bei den Ärzten jährlich der Kostenentwicklung angepasst werden. Und beides sehe ich derzeit noch nicht.
Im Übrigen ist auch hier eine konsequente Preisbindung unabdingbar. Wie wir in vielen anderen Bereichen unserer Wirtschaft leidvoll erleben müssen, führt ungezügelter Wettbewerb zwingend zu einem Verlust an Qualität der Versorgung. Schließlich kann ich Preissenkungen am Ende nur kompensieren, wenn es mir gelingt, den Umfang der Leistung zu minimieren und damit die Kosten zu senken. Dies kann man auch im Gesundheitswesen schon heute beobachten. Man schaue nur einmal auf den Hilfsmittelmarkt.
Grundsätzlich bin ich nachhaltig davon überzeugt, dass die Apotheke vor Ort auch in Zukunft den überwiegenden Teil ihres Ertrages aus dem Handling der Ware Arzneimittel erwirtschaften wird und muss. Andernfalls wird eine zeit- und wohnortnahe Versorgung in der Fläche nicht nur im Notfall zukünftig kaum zu gewährleisten sein.
Sie haben sich aus der aktiven Verbandstätigkeit in Westfalen-Lippe überraschend zurückgezogen, sind aber weiterhin Teil der Verhandlungskommission des Deutschen Apothekerverbands. Welche „dicken Bretter“ sind in der nächsten Legislaturperiode aus Apothekensicht zu bohren? Werden uns die Folgen des EuGH-Urteils von 2016 noch länger begleiten?
Corona hat beeindruckend gezeigt, wie wichtig eine wohnortnahe Versorgung mit Waren und Dienstleistungen vor Ort in der Fläche ist. Wir Apotheker haben unsere Leistungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Nicht nur am Beispiel der Masken wurde deutlich, wie unbedingt nötig die Preisbindung im Bereich der Gesundheitsversorgung ist. Wenn man bedenkt, dass sich die Bezugspreise für Schutzmasken in der Krise innerhalb kürzester Zeit um mehrere tausend Prozent erhöht haben, möchte man sich kaum ausmalen, was eine ähnliche Entwicklung bei lebensnotwendigen Arzneimitteln bedeuten würde. Insofern wird uns das EuGH-Urteil noch lange begleiten. Wir sollten uns zukünftig weiter mit aller Kraft für die Wiederherstellung der uneingeschränkten Preisbindung einsetzen.
Das dickste Brett in naher Zukunft wird allerdings die Umsetzung des E-Rezeptes sein. Dabei sollten wir vermeiden, vermeintlich bedrohliche Seiten zu sehen. Wir müssen es als Chance begreifen. Schließlich wird das E-Rezept die Gelegenheit bieten, die Abläufe in der Apotheke neu zu strukturieren und erhebliche Effizienzreserven zu heben.
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