Studienergebnisse „überraschend deutlich“

Erfolgsgeschichte ARMIN: Medikationsmanagement senkt Sterblichkeit

20.04.2023, 17:50 Uhr

Polymedikation ist kein Kinderspiel. Dank Medikationsmanagement gelang sie den ARMIN-Teilnehmenden besser. (Foto: Przemek Klos/AdobeStock)

Polymedikation ist kein Kinderspiel. Dank Medikationsmanagement gelang sie den ARMIN-Teilnehmenden besser. (Foto: Przemek Klos/AdobeStock)


Am Dienstag dieser Woche sind die lang erwarteten Ergebnisse der ARMIN-Studie vorgestellt worden. „Überraschend deutlich“ fielen diese den Autor:innen zufolge aus: Das Medikationsmanagement reduzierte die Mortalität und beeinflusste arzneimittelbezogene Parameter wie die Adhärenz. DAZ.online hat für Sie in die Studie geschaut.

Die Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen, oder kurz ARMIN, wurde 2014 als Modellprojekt der Kassenärztlichen Vereinigungen und Landesapothekerverbände aus Sachsen und Thüringen, sowie der AOK PLUS als regionale Krankenkasse gegründet und lief bis zum Jahr 2022. Das Projekt fußte auf drei Säulen: 

  1. Statt Präparaten sollten nur Wirkstoffe verordnet werden – die Präparateauswahl erfolgte dann in der Apotheke. 
  2. Es wurde ein einheitlicher Medikationskatalog erstellt, mit zugelassenen Wirkstoffen und Kombinationen für versorgungsrelevante Indikationen und 
  3. ein Medikationsmanagement eingeführt, welches in der nun veröffentlichten Studie evaluiert wurde. 

Die Begutachtung des Projekts wurde durch das Universitätsklinikum Heidelberg in Kooperation mit dem Institut für angewandte Gesundheitsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH ausgeführt.

Interprofessionelles Medikationsmanagement

Patient:innen mussten sich aktiv für die Teilnahme am Medikationsmanagement einschreiben. In Frage kamen AOK-Versicherte mit Polymedikation (min. 5 verschiedene Arzneimittel) oder Patient:innen mit weniger Arzneimitteln, dafür mit Bedarf für eine Medikationsanalyse (bspw. durch Non-Adhärenz). 

Bis zum Jahr 2018 willigten 5180 Teilnehmer:innen (Durchschnittsalter 72,6 Jahre) ein. Die Intervention wurde interprofessionell von Ärzt:innen und Apotheker:innen durchgeführt. Zunächst wurden die Pharmazeut:innen aktiv. Mittels Brownbag-Review erfassten sie die gesamte Medikation der Patient:innen in der Apotheke und führten eine leitliniengerechte pharmazeutische Arzneimitteltherapie-sicherheitsprüfung auf arzneimittelbezogene Probleme durch. 

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Anhand der Ergebnisse erstellten die Apotheker:innen den vorläufigen Medikationsplan, den die Ärzt:innen bewerteten und ihrerseits einer medizinischen Arzneimitteltherapiesicherheitsprüfung unterwarfen. Der finalisierte Medikationsplan wurde den Patient:innen ausgehändigt und kontinuierlich gepflegt.

Da das Projekt nicht prospektiv evaluiert wurde, mussten retrospektiv geeignete Kontrollen gefunden werden. Aus den Versicherungsdaten der AOK Plus ordneten die Gutachter:innen den ARMIN-Teilnehmer:innen deshalb in Bezug auf u.a. Alter, Geschlecht, Komorbiditäten und Polymedikation entsprechende Kontrollen (n=10039; 73,7 Jahre Durchschnittsalter) zu.

Signifikante Mortalitätsreduktion

Im Schnitt wurden ARMIN-Teilnehmer:innen und die in der herkömmlichen Versorgung betreute Versicherten 30 Monate lang beobachtet. In dieser Zeit sammelten die Wissenschaftler:innen Daten zur Mortalität der Teilnehmenden.

Dass eine Auswertung von Medikationsmanagement-Interventionen diesen harten Endpunkt analysiert, kommt selten vor. In der ARMIN-Gruppe zählten die Gutachter:innen 469 Todesfälle (9,3 Prozent), in der Kontrollgruppe 1300 (12,9 Prozent). Das um verschiedene Kovariaten bereinigte relative Risiko, in dem Zeitraum zu sterben, war damit in der ARMIN-Gruppe um 16 Prozent reduziert (Hazard Ratio 0,84; p<0,001), das absolute Sterberisiko verringerte sich durch die Intervention um 1,52 Prozent. Diese abstrakte Zahl übersetzten die Autor:innen in eine Number needed to treat von 66. Will heißen: 66 Medikationsanalysen retteten ein Menschenleben

Zusätzlich schauten die Wissenschaftler:innen auf die Hospitalisierungsrate in den ersten beiden Jahren nach Einschreibung. Dabei ergab sich aber kein Vorteil für das ARMIN-Kollektiv. Gut jede:r Zweite wurde in dem genannten Zeitraum mindestens einmal hospitalisiert, unabhängig davon, ob ein optimierter Medikationsplan zur Verfügung stand (52,4 Prozent) oder nicht (53,4 Prozent).

Verbesserte Therapietreue durch ARMIN

In zweiter Linie beleuchteten die Gutachter:innen auch verschiedene arzneimittelbezogene Parameter, unter denen besonders die Adhärenz hervorzuheben ist. Zwar konnte die Therapietreue nicht direkt gemessen werden, sondern sie wurde anhand der Anzahl der Tage, die von Verordnungen abgedeckt waren (Proportion-Of-Days-Covered), geschätzt. Durch die ARMIN-Betreuung besserte sich die Therapietreue bei 43,4 Prozent der Teilnehmer:innen, in der Kontrollgruppe nur bei 41,6 Prozent (p<0,001). 

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Auch ABDA Präsidentin Gabriele Overwiening betont, wie wichtig dieses Ergebnis sei. An mangelnder Therapietreue krankt häufig die Langzeitbehandlung. Sie sieht vor allem die strukturierten und wiederholten Gespräche mit den Patient:innen, sowie die ärztliche und pharmazeutische Überprüfung des Medikationsplans als ausschlaggebend hierfür an. 

Diesen vermehrten Kontakt zwischen Patient:innen und den Angehörigen der Heilberufe belegten die Gutachter:innen auch mit Zahlen. Beispielsweise suchten ARMIN-Teilnehmer:innen ihre Apotheken 15,5-mal pro Jahr auf – 2 Besuche mehr als vor der Intervention. Zum Hausarzt gingen sie im Schnitt 16,6-mal pro Jahr, auch hier 1,3 Besuche mehr durch das Modellprojekt. Die Kontrollgruppe schlug mit 14,1 jährlichen Apothekenbesuchen und 15,0 Arztbesuchen zu Buche. ARMIN-Teilnehmer:innen traten zusätzlich signifikant häufiger in sogenannte Disease-Management-Programme ein als die Kontrollgruppe (5,8 Prozent vs. 2,8 Prozent).

Schlussfolgerungen für Wissenschaft und Praxis

Als retrospektive Kohortenstudie erlaubt die Untersuchung zwar keine Kausalschlüsse, zugutehalten muss man dem Design aber, dass es unter Alltagsbedingungen durchgeführt wurde. Somit könnte es die Praxis möglicherweise besser abbilden als eine klinische Studie. Die Wissenschaftler:innen möchten die Ergebnisse gern weiter untersuchen – in prospektiven Studien, um mechanistische Zusammenhänge aufzuklären und Patient:innengruppen zu identifizieren, die besonders von dem Medikationsmanagement profitieren können. 

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Die Standesvertreterinnen leiten von den Ergebnissen konkrete Forderungen für die Praxis und den Gesetzgeber ab. Gabriele Overwiening fordert eine jährliche Medikationsanalyse für Patient:innen mit Polymedikation durch Ärzt:in und Apotheker:in, sowie ein kontinuierliches Medikationsmanagement. Die Betreuungsangebote sollen von Ärzt:innen und Apotheker:innen gemeinsam erbracht werden, um den größten Nutzen zu erzielen. 

Auch Dr. Annette Rommel, 1. Vorsitzende des Vorstandes der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen verlangt nach einem Rechtsrahmen in der Regelversorgung, der die interprofessionelle Zusammenarbeit Arzt-Apotheke ermögliche und für beide Seiten fair vergütet werde.


Dr. Tony Daubitz, Apotheker
redaktion@daz.online


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