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Pandemie Spezial
Ständig neue Maßzahlen
Messmethoden zur Einschätzung der Corona-Lage sorgen für Verwirrung
Tatsächlich hat das RKI es versäumt, die Maßzahlen, die den politischen Entscheidungen zur Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit zugrunde liegen, allgemein verständlich zu erklären. Und nicht ein Wort wurde darauf verwandt zu erläutern, warum die statistischen Messgrößen keine festen Werte sind und ihre Aussagefähigkeit von der Dynamik der Epidemie abhängt. Das stiftet nicht nur bei Laien Verwirrung. Es vermindert in der Bevölkerung die Akzeptanz für Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus und verursacht Ängste gegen übereilte Schritte aus dem Shutdown.
Die Verdopplungszeit
Die Verdopplungszeit – die Anzahl der Tage, in denen sich die Zahl der neu infizierten Personen verdoppelt – ist eine Projektion in die Zukunft. Die Maßzahl zeigt an, wann ein Ausbruch aus dem Ruder zu laufen droht. Um die Verdopplungszeit zu berechnen, muss die mathematische Funktion der Epidemiekurve bekannt sein. Rein theoretisch reicht dafür die Zahl der Neuinfektionen von zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Liegen vier oder fünf Werte vor, lässt sich die Steigung der Epidemiekurve, also der Zuwachs der neuen Fälle pro Tag, zuverlässig berechnen.
Am Tag vor dem Shutdown betrug die Verdopplungszeit drei Tage. Die Zahl der Neuerkrankungen lag bei rund 4800 pro Tag. Wäre alles beim Alten geblieben, hätte die Zahl der Infizierten nach acht Tagen der Einwohnerzahl von Jena (111.000) entsprochen. Nach weiteren acht Tagen wäre die Zahl der Neuinfektionen auf 607.000 geklettert, etwas mehr als die Bevölkerung von Leipzig. Und es hätte nur noch drei weitere Tage gedauert, bis bundesweit mehr als 1,1 Millionen Menschen infiziert gewesen wären – ziemlich genau die Einwohnerzahl von Köln. Bei diesen Dimensionen wäre unser Gesundheitssystem auf allen Ebenen – Öffentlicher Gesundheitsdienst, ambulante und stationäre Gesundheitsversorgung – kollabiert.
In der dritten Märzwoche zeigte die Epidemieuhr Verdopplungszeit, also eindeutig an, dass es Fünf vor Zwölf war. Länder wie Italien, Spanien und Frankreich, die das Warnsignal der kurzen Verdopplungszeit bei einer hohen Zahl täglicher Neuerkrankungen nicht beachtet hatten, mussten dafür einen hohen Preis in Form von mehr als bislang 25.000 Toten bezahlen. Österreich, das bereits um Viertel vor Zwölf der Epidemieuhr drastische Maßnahmen ergriff, bekam die Epidemie – im europäischen Vergleich – am schnellsten unter Kontrolle.
Es ist offensichtlich, dass die Verdopplungszeit ungeeignet ist, den Zeitpunkt für einen schrittweisen Ausstieg aus dem Shutdown zu bestimmen. Hier kommt der Reproduktionsfaktor ins Spiel.
Der Reproduktionsfaktor
Der Reproduktionsfaktor sagt tatsächlich etwas über die „Fortpflanzung“ einer Epidemie aus: liegt er bei zwei, steckt im statistischen Mittel eine infizierte Person zwei Gesunde an. Ist er gleich eins, ändert sich an der absoluten Zahl von Neuinfektionen pro Tag nichts. Also aus 1284 Neuinfektionen in ganz Deutschland (Stand 7. Mai) würden – in der Theorie – dieselbe Zahl von neuen Fällen entstehen.
Was auf den ersten Blick wie eine simple Grundrechenart aussieht, die man zur Not ohne Taschenrechner durchführen kann, – nämlich zwei Zahlen durcheinander teilen – ist in Wirklichkeit eine hochkomplexe Rechenoperation. Das Grundproblem bei der Berechnung der Maßzahl R sind Unwägbarkeiten in den Daten, die von den einzelnen Bundesländern zu Verfügung gestellt werden. Das Resultat ist dem einer Hochrechnung bei einer Bundestagswahl vergleichbar: Je weniger repräsentativ die Auswahl der Befragten, umso unsicherer ist die Aussage.
In analoger Weise ist der jeden Tag vom RKI neu berechnete Reproduktionsfaktor also nur ein Schätzwert mit einer erheblichen Unschärfe. Die Fehlerbreite einer solchen Hochrechnung, also der 95-Prozent-Vertrauensbereich, ist den Epidemiologen des RKI natürlich bekannt, ihre Bedeutung wurde der Öffentlichkeit aber nie vermittelt.
Ein Beispiel: Am 29. März betrug der vom RKI berechnete Wert exakt 1. Er hätte aber genauso gut 1,2 oder 0,8 sein können. Ein Unterschied von 40 Prozent. Möchte man ganz auf der sicheren Seite liegen (99-Prozent-Vertrauensbereich), könnte die Maßzahl sogar zwischen 1,3 und 0,7 schwanken. Die statistische Ungenauigkeit von R ist also erheblich. Die Fehlerbreite einer statistisch ermittelten Maßzahl ist eine Gesetzmäßigkeit, die nicht schöngerechnet werden kann.
Dass kurz vor dem Shutdown der R-Wert einmal bei 0,8 lag, ist zufällig. Der niedrige Wert ist keinesfalls ein Beleg dafür, dass die eingeleiteten Maßnahmen überflüssig gewesen wären. Daraus ergibt sich, dass der R-Wert eines einzelnen Tages keine Schlussfolgerung ermöglicht. Entscheidend ist die Tendenz der Maßzahl über einen Zeitraum von 10 bis 14 Tagen. Das RKI hat mittlerweile bei der Berechnung der Maßzahl nachjustiert und präsentiert jetzt zusätzlich den geglätteten R-Wert, das sogenannte 7-Tage-R. Dieses geglättete R zeigt an, wie viele Menschen eine infizierte Person vor ein bis zwei Wochen durchschnittlich angesteckt hat. Die Maßzahl wird dadurch weniger durch lokale Ausbrüche beeinflusst. So lässt sich die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Verminderung der Übertragung des Virus belegen beziehungsweise ungewünschte Effekte einer Lockerung erkennen.
Die Zahl der Todesfälle
Ein kalter Messwert mit einem hohen Emotionsfaktor ist die Anzahl der Todesfälle. Mittlerweile (Stand 7. Mai) sind mehr als 7100 Menschen an COVID-19 verstorben – und das trotz einer optimalen intensivmedizinischen Versorgung. Eine Zunahme der landesweiten Todesfälle pro Tag sagt etwas darüber aus, wie dicht ein Gesundheitssystem an der Belastungsgrenze ist. Offensichtlich zeigen mehr als tausend Corona-Tote innerhalb von 24 Stunden (zuerst Italien und Spanien, dann Frankreich und Großbritannien, schließlich in New York und Moskau) an, dass die Gesundheitsversorgung am Rand des Zusammenbruchs ist oder bereits zusammengebrochen war. Wird die Zahl der Todesfälle zur Gesamtbevölkerungszahl in Bezug gesetzt, lässt sich die Qualität der Versorgung schwer erkrankter Patienten zwischen einzelnen Ländern vergleichen.
In Deutschland sterben derzeit täglich – trotz rückläufiger Fallzahlen – noch etwa 120 Patienten. Die nach wie vor hohe Ziffer reflektiert die Zahl der Neuerkrankungen pro Tag von vor drei Wochen. Die Maßzahl ist also für die Abschätzung von negativen Auswirkungen durch eine zu frühzeitige Lockerung von Maßnahmen nicht geeignet.
Die Fallzahl
Bleibt als Kennzahl die Zahl der bestätigten Neuinfektionen pro Tag, die sogenannte Fallzahl. Auch hier steckt der Teufel im Detail. Zwei unterschiedliche Berechnungsmethoden werden derzeit vom RKI angewandt. Am 16. März beispielsweise war die offiziell mitgeteilte Fallzahl 4820, sie hätte aber auch 5250 betragen können. Schwankungen der Fallzahl von Tag zu Tag sind dementsprechend wenig aussagefähig. Auch hier ist die Tendenz über acht, besser zehn Tage entscheidend.
Die Aussagefähigkeit dieses Messwertes hängt zudem davon ab, wie systematisch das Umfeld einer neu erkrankten Person getestet wurde, denn vier bis fünf von zehn Infizierten haben ja keine Krankheitszeichen. Eine Maßzahl von fünf pro Test nachgewiesenen Fällen unter 1000 untersuchten Kontaktpersonen hat naturgemäß eine höhere Aussagekraft, als wenn nur zehn Personen aus dem Umfeld untersucht wurden. Die Dunkelziffer ist im zweiten Beispiel ungleich höher. Wird immer mehr getestet – eine Million Untersuchungen pro Woche sind geplant – erhöht sich auch die Fallzahl und sinkt gleichzeitig die Dunkelziffer. Werden vorwiegend oder ausschließlich Menschen mit Symptomen getestet, bleibt die Maßzahl „Neuinfizierte pro Tag“ falsch niedrig. Länder wie Japan und Schweden, in denen nahezu ausschließlich nur Menschen mit Krankheitszeichen auf das neue Coronavirus untersucht werden, haben dementsprechend verhältnismäßig niedrige Fallzahlen. Im Gegensatz zu den anderen Messgrößen ist die Zahl der neuen Fälle pro Tag aber von grundsätzlich praktischer Relevanz. Liegt die Zahl über einem kritischen Wert, ist es unmöglich, die Infektionsketten bis in das letzte Glied nachzuverfolgen. Die Übertragung des Virus von einer Person auf andere kann also nicht komplett unterbrochen werden. Aus Wuhan wurde berichtet, dass ein Team von drei professionellen Infektionsepidemiologen im Durchschnitt drei Tage benötigt, um alle Kontaktpersonen einer neu infizierten Person zu identifizieren, diese zu testen, Quarantäne anzuordnen und die Einhaltung der Quarantäne zu überprüfen. Dadurch konnten jede einzelne Infektionskette nachverfolgt und letztendlich die Ausbreitung des Virus komplett unterbrochen werden.
„Die vollständige Kontaktnachverfolgung von Infizierten ist die Grundvoraussetzung für weitere Öffnungsschritte“, so die Übereinkunft der Bundesregierung und der Bundesländer am 30. April. Zu diesem Zweck soll es in Deutschland zukünftig fünf Containment Scouts für je 20.000 Einwohner geben. Diese sollen „jede neue Infektionskette nachverfolgen und die Isolation von Infizierten überwachen“. Wie viele Gesundheitsämter derzeit über eine ausreichende Personaldecke mit epidemiologischen Fachkräften verfügen, ist unbekannt. Übersteigt die Zahl der neuen Fälle innerhalb einer Woche die Personalkapazität eines Gesundheitsamts, führt das letztlich zu einer erneuten Ausbreitung des Virus.
Die Crux
Die Crux der Messzahlen ist, dass sie die Epidemie-Situation reflektieren, die zehn Tage zuvor bestand. Will man also wissen, ob einzelne Lockerungsmaßnahmen zu einem erneuten Anstieg der Neuinfektionen geführt haben, muss man zehn Tage – das RKI empfiehlt sogar zwei Wochen – ins Land gehen lassen, bevor man eine weitere Maßnahme umsetzt. In der derzeitigen föderalen Gemengelage ist es sehr wahrscheinlich, dass die Zahl der Neuinfektionen pro Tag ansteigen wird, dass man aber den ursächlichen Faktor für den Wiederanstieg nicht wird identifizieren können. |
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