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Was passiert, wenn Zytostatika unterdosiert werden? Angesichts der Vorwürfe aus der Anklage gegen den Zyto-Apotheker Peter S. sollte ein Tumorforscher am heutigen Freitag klären, welche Folgen Minderdosierungen für Patienten haben. Er wurde insbesondere von den inzwischen mehr als 40 Nebenklägern ausführlich befragt.
Am heutigen Freitag wurde im Prozess um den Bottroper Zyto-Apotheker Peter S. der Leiter der onkologischen Klinik der Uniklinik Essen, Martin Schuler, als Sachverständiger vernommen. Da dem Apotheker im großen Stil Unterdosierungen vorgeworfen werden, sollte Schuler klären, welche Folgen derartige Taten auf die Patienten haben. Bislang hat die Staatsanwaltschaft nur bei 27 Patienten, von denen bei der Razzia vor einem Jahr unterdosierte, wirkstofflose oder falsche Krebsmittel sichergestellt wurden, versuchte Körperverletzung zur Anklage gebracht. Die Vertreter der Nebenkläger denken jedoch, dass die Strafkammer versuchte Tötung verhandeln sollte – oder sogar versuchten Mord.
Im Zuge von allgemeinen Erläuterungen zu Therapiemöglichkeiten für Krebspatienten betonte Schuler, dass man kurative Behandlungsziele – bei denen eine rückfallfreie Genesung von Patienten erreicht werden soll – von palliativen unterscheiden könne. Bei Letzteren gehe es angesichts eines absehbaren tödlichen Ausgangs nur um eine Lebensverlängerung und eine bessere Lebensqualität.
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„Individuelle Schadensvorhersage extrem schwierig“
Generell sei die individuelle Vorhersage eines Schadens „extrem schwierig“, betonte Schuler – daher könne man nur mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten. Er antwortete dabei auch auf viele Fragen des Vorsitzenden Richters Johannes Hidding zu einem Gutachten, das er in den Wochen nach der Inhaftierung des Apothekers Ende November 2016 angefertigt hatte. Ungewöhnlich sei gewesen, dass er „keinerlei konkrete Information“ zu dem Fall bekommen habe, sodass er die Fragen nur „sehr“ generell beantworten konnte.
Hidding legte Schuler in der Verhandlung eine Liste mit mehreren Dutzend Krebsmitteln vor, die S. laut Anklage unterdosiert hergestellt haben soll. Der Onkologe erläuterte jeweils, welche Wirkstoffklassen wie wirken sollen und auf welchen Wegen sie verabreicht werden. Der Apotheker hörte dabei aufmerksam zu. Allgemein bestehe ein „schmaler Grat zwischen Nebenwirkung und Wirkung“, betonte Schuler – daher werde die Dosis anhand von Gewicht und Größe individuell bestimmt.
Sind Unterdosierungen auch im Nachhinein feststellbar?
Ein zentraler Punkt bei dem Verfahren wird die Frage sein, inwiefern Unterdosierungen im Einzelfall beweisbar sind – und ob sie beim einzelnen, konkreten Patienten zu einem früheren Tod geführt haben. Grundsätzlich seien Wirkstoffkonzentrationen im Blut von Patienten auch nach der Therapie noch gut nachweisbar, sagte Schuler, bei Antikörpertherapien auch nach Wochen – sofern rechtzeitig Proben genommen wurden. Tumormarker seien jedoch normalerweise zu unzuverlässig, um eine Unterdosierung sicher nachweisen zu können. Schwierig sei auch, dass viele Patienten Kombinationstherapien erhalten haben, sodass der Beitrag der einzelnen Wirkstoffe kaum bestimmt werden könnte.
Beim Zytostatikum Doxorubicin könne aufgrund der roten Färbung recht eindeutig gesagt werden, ob es erheblich unterdosiert wurde, erklärte Schuler – oder vielleicht sogar gar nicht enthalten ist. Außerdem führe beispielsweise dieses Krebsmittel nach ungefähr drei Wochen zu Haarausfall: Es sei „fast ausgeschlossen“, dass dies ausbleibt, erklärte der Mediziner. Bei anderen Chemotherapeutika könnte das Blutbild Rückschlüsse auf die Dosierung geben.
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Nebenkläger fragten ausführlich
Auf die Fragen des Staatsanwalts erläuterte Schuler beispielsweise die Vorteile von Ports, über die Krebsmittel gegeben werden – wie auch die Belastungen, die für die Patienten hiermit eingehen. Während die Anklage nur wenige Fragen an den Sachverständigen richtete, befragten betroffene Nebenkläger sowie ihre Rechtsanwälte den Onkologen ausführlich. Eine Patientin befragte ihn, aufgrund welcher Kriterien in den verschiedenen Phasen klinischer Studien die optimale Dosis bestimmt wird. Umfangreiche wissenschaftliche Daten zu den Folgen von Unterdosierungen beim Menschen gebe es „natürlich“ nicht, sagte Schuler – entsprechende Studien seien ethisch nicht vertretbar.
Auch eine Fallkontrollstudie, bei der Krankheitsverläufe von unterschiedlich behandelten Patienten miteinander verglichen werden, könnte nur Wahrscheinlichkeiten ermitteln – „Gewissheiten nicht“, sagte der Sachverständige. Eine Patientin schilderte ausführlich, dass sie sich nach mehreren erfolgreichen Tumorbehandlungen an der Uniklinik Essen in Bottrop behandeln ließ, wo sie von S. mit Krebsmitteln versorgt wurde. Dort besserte sich ihre Erkrankung durch zwei Chemotherapien sowie eine Immuntherapie nicht, erklärte sie: Während Tumormarker nach der anschließenden Behandlung mit Mitteln aus einer andere Apotheke auf die Hälfte zurückgingen, gab es zuvor weder Haarausfall noch Blutbildveränderungen, sagte die Nebenklägerin. „Das ist sehr auffällig“, erklärte Schuler.
Apotheker würde „hohe Wahrscheinlichkeit“ eines Schadens in Kauf nehmen
Der Apotheker Peter S. verfolgte die Aussagen von Schuler mit reglosem Gesicht – doch seine Augen verrieten, dass er konzentriert zuhörte. Der Sachverständige erklärte auf Nachfrage von Nebenklägern, dass manche Krebsmittel nur zu einer recht geringen Erhöhung der Überlebenszeit führten. Doch hätten Patienten, die mit unterdosierten Mitteln behandelt werden, zumindest im Mittel „eindeutig“ ein schlechteres Ergebnis. Der mögliche Schaden sei umso höher, je höher die Wahrscheinlichkeit eines Nutzens ist, betonte Schuler.
Dem Zytostatika-herstellenden Apotheker fehlten dabei normalerweise Informationen über die Patienten, aufgrund derer er die Situation abschätzen könne. Das hieße, dass er „auch eine hohe Wahrscheinlichkeit“ eines Schadens in Kauf nehme, wenn er Arzneimittel unterdosiert, betonte der Onkologe. Ärzte würden davon ausgehen, dass die Dosis eines Zytostatikums richtig sei, erklärte er – sie gingen auch in der Therapieplanung hiervon aus. Möglich sei außerdem, dass eine Unterdosierung Resistenzen verursachen könne, erklärte Schuler auf Nachfrage eines Nebenklagevertreters.
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Am Montag geht es weiter
„Letztendlich gehen wir hoffentlich alle davon aus, dass Krebsmedikamente wirken“, fasste der Vorsitzende Richter Hidding die Debatte um die Frage zusammen, inwiefern eine korrekte Dosierung nötig ist. Er bedankte sich bei dem Sachverständigen für die Stellungnahme – und vergaß dabei, dass er auch noch den Verteidigern das Fragerecht geben musste. Diese wollten beispielsweise wissen, was passieren kann, wenn – wie es S. vorgeworfen wird – Hygienebestimmungen nicht eingehalten werden. Mikrobiell belastete Infusionstherapien könnten eine Sepsis oder auch Fieber auslösen, erklärte der Arzt.
Nach einer Einlassung der Verteidiger zur früheren Befragung eines Mitarbeiters des Rechenzentrums beendete Hidding die Verhandlung. Am kommenden Montag wird erneut die PTA Maria Klein befragt, die den Fall als Whistleblowerin mit ins Rollen gebracht hat. Die Vernehmung des früheren betriebswirtschaftlichen Leiters der Apotheke, Martin Porwoll, wurde daher ins nächste Jahr verschoben. Am kommenden Donnerstag werden außerdem sechs frühere Kollegen von Klein und Porwoll verhört. Da fünf von ihnen jedoch bislang jegliche Aussage verweigert haben, wird der letzte Verhandlungstermin vor Weihnachten trotz der langen Zeugenliste vermutlich nicht lange dauern.
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