DAZ.online-Miniserie „Jüdische Apotheker“ (3)

Geschichten von Flucht und Vernichtung

Berlin - 17.08.2018, 17:50 Uhr

Apotheke im Ghetto Litzmannstadt (Lodz). Im Teil 3 der DAZ.online-Miniserie über jüdische Apotheker geht es darum, welche Wege jüdische Apotheker während der Verfolgung durch die Nazis genommen haben. ( r / Foto: dpa)

Apotheke im Ghetto Litzmannstadt (Lodz). Im Teil 3 der DAZ.online-Miniserie über jüdische Apotheker geht es darum, welche Wege jüdische Apotheker während der Verfolgung durch die Nazis genommen haben. ( r / Foto: dpa)


Der Nationalsozialismus war eine finstere Epoche – insbesondere für die jüdische Bevölkerung. Auch die Apotheker jüdischen Glaubens sahen sich den Verfolgungen ausgesetzt. Es sind Geschichten von Flucht und Vernichtung. Teil 3 der DAZ.online-Miniserie „Jüdische Apotheker“ zeichnet Schicksale jüdischer Apotheker während der NS-Zeit nach.  

Ungefähr eine halbe Millionen Juden lebten 1933 im Deutschen Reich. Die direkt nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten vom 30. Januar 1933 einsetzende antisemitische Gesetzgebung entzog der jüdischen Bevölkerung planmäßig Schritt für Schritt ihre bürgerlichen Rechte und beraubte sie ihrer Existenzgrundlagen. Ziel war die Ausgrenzung der Juden aus allen Gesellschafts- und Lebensbereichen. So durften auch jüdische Apotheker zunächst ihre Apotheken nicht mehr leiten und ab 1939 ihren Beruf gar nicht mehr ausüben. Doch nicht nur die damit verbundenen wirtschaftlichen Existenzängste machten das Leben für die jüdische Bevölkerung schwer, zunehmend wurde auch ihr Leben selbst bedroht.

Nationalsozialistische Rassenideologie

Die jüdische Bevölkerung wurde von den Nationalsozialisten nicht als Teil des deutschen Volkes betrachtet. Sie verfolgten eine – wissenschaftlich unhaltbare – „völkische“ Rassenideologie, die ihre Anfänge bereits im 19. Jahrhundert hatte. Juden galten als bedrohliche „Gegenrasse". Zudem wurden sie als Verschwörer sowohl hinter dem westlichen Kapitalismus als auch hinter dem sowjetischen Kommunismus gesehen. Der rassisch motivierte Judenhass berief sich in seinen Ausgrenzungen nicht auf die jüdische Religion allein, sondern bezog sich auf eine Rassenideologie, die von einer Zugehörigkeit zu der „jüdischen Rasse“ ausging, die unabhängig vom jeweiligen Glauben der betroffenen Personen war. „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein", so das Parteiprogramm der NSDAP bereits 1920. 

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Der lange Weg der Emanzipation

Am 15. September 1935 wurden die „Nürnberger Gesetze“ verabschiedet – ein radikaler Einschnitt im Leben der jüdischen Bevölkerung. Die Gesetze bestanden unter anderem aus dem „Reichsbürgergesetz" und dem sogenannten „Blutschutzgesetz“. Das „Reichsbürgergesetz“ erklärte Juden zu Menschen minderen Rechts. Sie konnten keine sogenannten „Reichsbürger“ mit vollen Bürgerrechten sein. Fortan galt als Jude, wer drei jüdische Großeltern hatte, der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörte oder mit einem sogenannten „Volljuden" verheiratet war. Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ stellte unter anderem die Eheschließung zwischen Juden und „Staatsangehörigen deutschen Blutes" unter Strafe.  

Frühzeitige Auswanderung Richtung Palästina

Diese erste Welle massiver Ausgrenzung und Unterdrückung nach der Machtübernahme 1933 veranlasste vor allem politisch verfolgte und jüngere Juden zur Auswanderung. Frank Leimkugel beschreibt in seinem Buch „Wege jüdischer Apotheker“ wie vor allem dem Zionismus nahestehende Apotheker in den Jahren 1933 und 1934 ihre Emigration nach Palästina bzw. „Eretz Israel“ (Land Israel; das historische Heimatland der Juden) planten. Sie hatten bereits die Übergriffe des sogenannten Boykottsamstages am 1. April 1933 als Warnschuss angesehen. Einer von ihnen war Alfred Schindler (Gogolin 1883 – 1972 Haifa), der seit 1927 die Adler-Apotheke im ostpreußischen Elbing besessen hatte und im Oktober 1933 mit seiner Familie nach Palästina auswanderte.

Seine Tochter berichtete über die damaligen Ereignisse: „Mein Vater war seit seiner Kindheit Zionist. Nur wegen des Klimas ist er nicht früher nach Israel ausgewandert. Sofort als Hitler kam, wurden die Kassenrezepte entzogen, die natürlich die Haupteinnahmequelle der Apotheke waren.“ Ferner seien auch Kollegen interessiert gewesen, ihn als Konkurrenten auszuschalten: „Kollegen verbreiteten Lügen, jeder Tag war lebensgefährlich. Der Entschluss zur sofortigen Emigration nach Palästina war nicht schwierig.“ Die Apotheke hätte dann allerdings zu einem „lächerlichen Preis“ verkauft werden müssen. Alles sei danach aber sehr schnell gegangen.  

Flucht – aber wohin?

Nachdem in den Jahren 1933 und 1934 die meisten Juden in westeuropäische Länder oder nach Palästina auswanderten, änderte sich die Situation in den darauffolgenden Jahren. Vermehrt bemühten sie sich um Einwanderungsgenehmigungen in Nord- und Südamerika sowie in England. Doch die Quotenregelungen zum Beispiel in den USA waren strikt: Nur knapp über 27.000 deutsch-jüdische Immigranten durften dort pro Jahr einwandern. Auch die jüdischen Apotheker versuchten zunehmend ins Exil zu gehen. Ab 1936 nahm die Zahl der Emigrationswilligen stark zu. Anlass war das „Gesetz über Verpachtung und Verwaltung von Apotheken“, das ab 1. Oktober 1936 in Kraft trat und die Situation der jüdischen Pharmazeuten deutlich verschlechterte. Die meisten Apothekeremigranten wählten die USA als Einwanderungsland.

Juden auf der Flucht in Richtung England. (Foto: Imago)

Die südamerikanischen Länder lagen in ihrer Gesamtheit nach den USA, Palästina und England auf dem vierten Rang der Aufnahmeländer jüdischer Apotheker. Brasilien und Argentinien waren die Hauptaufnahmeländer Südamerikas. Erich Loewenberg (Berlin 1886-1957 Sao Paulo) floh mit seiner Familie nach Verkauf der Heidelberger Universitäts-Apotheke nach Brasilien. Sein Sohn, Werner Loewenberg, schilderte die Ereignisse rund um die Flucht: „Die Bedingungen des Verkaufs der Universitäts-Apotheke waren denkbar schlecht, die Nutzbarmachung des Erlöses katastrophal. Die Vorbereitung auf die Emigration beruhte im Wesentlichen auf der Möglichkeit, ein Einreisevisum für das erwünschte Land zu erhalten. Mit der Zeit war aus ‚erwünscht‘ jedes beliebige Land geworden, das Sicherheit bot.“

Widersprüchliche Politik der Nationalsozialisten?

Grundsätzlich kann die „Judenpolitik“ der Nationalsozialisten in unterschiedliche Phasen unterteilt werden. Schritt für Schritt forcierten die Nationalsozialisten zunächst die Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus dem gesellschaftlichen Leben und ihre Vertreibung aus Deutschland. In verschiedenen Emigrationswellen verließen viele dann auch das Land. Spätestens nach den Novemberpogromen von 1938 erhöhte sich die Bereitschaft vieler Juden, ihre deutsche Heimat zu verlassen. Dies war zunehmend schwierig, da viele Juden bereits ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubt waren und viele Aufnahmeländer nicht „interessiert“ an verarmten Juden waren. Kaum ein Land erlaubte ab diesem Zeitpunkt noch eine uneingeschränkte Einwanderung. 

Als Gegenreaktion fand am 12. November 1938 eine interministerielle Konferenz im Reichsluftfahrtministerium in Berlin statt. Die Konferenzteilnehmer beschlossen, die Emigration der jüdischen Bevölkerung zu forcieren. Ab 1939 wurde zu diesem Zweck die „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ gebildet. Mit Kriegsbeginn verlor die Reichszentrale ihre Bedeutung. Ab Oktober 1941 durften Juden nicht mehr ausreisen, es sei denn, es handelte sich um die von nun an durchgeführten Deportationsmaßnahmen Richtung der Ghettos im Osten. An die Stelle der Auswanderung trat nun also die Deportation – und letztlich die planmäßige Vernichtung jüdischen Lebens. Mehr als sechs Millionen Juden verloren durch den Völkermord europaweit ihr Leben.

Überleben im Exil

Das Überleben im Exil war nicht einfach. In den USA wurden zum Beispiel die deutschen Abschlüsse jüdischer Pharmazeuten nicht anerkannt. So waren deutsche Apotheker gezwungen, an amerikanischen Universitäten einen Abschluss nachzuholen. Die Bedingungen und die Studiendauer waren in den einzelnen Bundesstaaten sehr unterschiedlich. Die berufliche Eingliederung war auch durch Ressentiments nicht immer einfach. So beschrieb Dr. Max Daniel (Bublitz 1891-1964 San Francisco) die Probleme mit einheimischen Kollegen: „Auch in San Francisco bot sich das gleiche Bild wie in New York. Die Animosität der dortigen Kollegen war sehr groß gegen Ankömmlinge.“ Er resümierte aber auch: „Ich machte meine bitteren Erfahrungen, aber ich gab nicht auf.“

Auch in Palästina war für die meisten jüdischen Apotheker der Start sehr schwer. Die britischen Mandatsbehörden verlangten ein mindestens sechssemestriges Pharmaziestudium, so wie es den Bestimmungen in England entsprach. Doch deutsche Apotheker verfügten nur über drei- bzw. ab 1904 über ein viersemestriges Studium. Das änderte sich erst ab 1935. Zu spät für die jüdischen Apotheker. So wurden nur die wenigen Apotheker, die über eine Promotion verfügten, anerkannt. Da es aber damals in Palästina keine pharmazeutische Fakultät gab, konnte auch kein Nachstudium angehängt werden. Einige Apotheker hatten das Glück, dass sie einige Semester eines Zweitstudiums wie Medizin nachweisen konnten und so eine Lizenz zur Berufsausübung erhielten. Andere wiederum arbeiteten als „unlizenzierte Pharmazeuten“. Auf diese Weise entstand eine Art von „Zweiklassengesellschaft“.

Brasilien – Traumziel?

Brasilien gehörte zu den wenigen Ländern, die ohne größere Schwierigkeiten Einreisevisa für jüdische Migranten ausstellten. Allerdings war auch dort die Situation für jüdische Apotheker nicht leicht. Ab 1935 wurden zur Abschreckung einwanderungswilliger Pharmazeuten deren Abschlüsse nicht mehr anerkannt. Allerdings schafften es einige jüdische Apotheker ihre Existenz in der pharmazeutischen Industrie und in verwandten Industriezweigen zu sichern. Die Arbeit in öffentlichen Apotheken blieb ihnen meist verwehrt. So konnte auch Erich Loewenberg in Sao Paulo Fuß fassen und dort ein chemisch-pharmazeutisches Laboratorium gründen, das als „Quimica Especializada Erich Lowenberg Ltda“ zu einem führenden Unternehmen Brasiliens im Bereich der Feinchemikalien wurde.

Auswandernde Juden auf einem Schiff Richtung Südamerika. (Foto: Imago)

Bleiben – und was dann?

Ein Teil der jüdischen Apotheker sah in einer Auswanderung keinen gangbaren Weg für sich. Meist handelte es sich um assimilierte, oft patriotisch denkende Juden, die sich zu sehr in Deutschland verwurzelt sahen. Häufig sprach auch fortgeschrittenes Alter gegen eine Flucht. Ihr Schicksal ist sehr unterschiedlich verlaufen. Einige nahmen sich angesichts der Demütigungen und der Ausweglosigkeit ihrer Situation das Leben. Andere wurden verhaftet, deportiert und verloren schließlich ihr Leben in einem der Vernichtungslager.

Einige jüdische Pharmazeuten nahmen sich schon in den ersten Jahren nach 1933 das Leben. Die meisten Selbstmorde fanden allerdings unmittelbar vor den angekündigten Deportationsterminen statt. Das Schicksal des Dr. Josef Dawson Mayer (Mannheim 1870-1940 Wiesbaden) ist durch eine Reihe von Abschiedsbriefen an seine Familie gut belegt. Mayer war im April 1940 von einem Nazi-Beamten beim für Juden nicht erlaubten Eier-Kauf erwischt worden. Er wurde daraufhin angezeigt und ihm wurde gesagt, er solle sich „morgen ab 8 Uhr zur Verfügung halten“. In Verzweiflung nahm sich Mayer in der Nacht mit einer Überdosis Morphin das Leben. 

Deportation in Ghettos – Tod im Konzentrationslager

Das Leben des jüdischen Apothekers und ehemaligen Hamburger Geschäftsführers des Verbandes Deutscher Apotheker Wilhelm Fraenkel (Groß Strelitz 1885-1942 Litzmannstadt) endete im Ghetto Litzmannstadt, wie Lodz nach seiner Besetzung im Jahre 1940 genannt wurde. Der bekannte Apotheker wurde im Vorfeld seiner Deportation nach Lodz schon einmal als Folge einer Verhaftung während des Novemberpogroms für vier Wochen interniert – „Schutzhaft“ wie es damals benannt wurde. Im Ghetto Litzmannstadt fand er ein vollständig von der Umgebung isoliertes Leben vor. 164.000 Menschen wurden dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Eine Infrastruktur mit Verwaltungsapparat, Geschäften –und auch Apotheken – wurde zur Aufrechterhaltung des „schönen Scheins“ geschaffen. Die Menschen starben dennoch an Hunger, Krankheiten oder den Folgen der Zwangsarbeit.

Viele jüdische Apotheker verloren ihr Leben in den Konzentrationslagern der Nazis. Unter ihnen der Apotheker Dr. Joseph Herzberg (Königsberg 1864-1942 Theresienstadt). Herzog war Leiter der wissenschaftlichen Abteilung und Berater der Handelsgesellschaft Deutscher Apotheker mbH. (HAGEDA). Seit 1934 durfte er dort nicht mehr arbeiten. Er bekam stattdessen seinen „Ausweisungsbefehl“ – und starb schließlich 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt. 

Nur wenige überlebten den Holocaust. 

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Die Artikel-Serie „Jüdische Apotheker“ der DAZ.online bezieht sich unter anderem auf das Buch von Frank Leimkugel „Wege jüdischer Apotheker“ bezüglich der Situation in Deutschland und auf die Arbeit von Esther Hell „Jüdische Apotheker im Fadenkreuz“, das die Situation jüdischer Pharmazeuten in Hamburg analysiert. Exemplarische Schicksale jüdischer Apotheker werden auf Basis der bereits benannten Quellen und einzelner im Internet verfügbarer Quellen beschrieben.

Die Datenlage zur Situation jüdischer Apotheker in Deutschland rund um die NS-Zeit – Zeitraum der DAZ.online-Miniserie – ist allgemein lückenhaft. Bedingt durch die geschichtlichen Ereignisse sind Akten und Schriftstücke der damaligen Behörden und betreffenden Organisationen im größeren Umfang vernichtet worden bzw. verschollen. Den Arbeiten von Leimkugel und Hell liegen unter anderem die Auswertungen vorhandener Dokumente verschiedener Landes- und Stadtarchive, einzelner Archive zur pharmazeutischen Geschichte, des Leo Baeck Institutes zur Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums, des Amtes für Wiedergutmachung und der Entschädigungsbehörde Berlin zugrunde.



Inken Rutz, Apothekerin, Autorin DAZ.online
redaktion@daz.online


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