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10. September 2020
Lang erwartet, jetzt liegt’s vor, gerade noch rechtzeitig (oder absichtlich?) vor den Beratungen zum Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz: das ökonomische Gutachten zum Apothekenmarkt, angefertigt vom IGES-Institut, einem unabhängigen, privatwirtschaftlichen Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastrukturfragen, erstellt im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums. Gedacht war es wohl, um Argumente zur Verteidigung des Rx-Boni-Verbots zu bekommen. Auf knapp 90 Seiten befasst sich die Studie allerdings nicht mit juristischen Fragen, es gibt keine Betrachtungen, wie die Preisbindung europarechtlich zu rechtfertigen ist und wie ein Boni-Verbot durchsetzbar ist. Die deutsche Preisbindung wird nicht infrage gestellt, aber auch nur kurz gerechtfertigt. Im ersten Teil wird unser Apothekensystem und die wirtschaftliche Situation der Apotheken beschrieben. Der zweite Teil sind modelltheoretische Betrachtungen zur Preisbindung. Betrachtet wird auch der Einfluss des E-Rezepts. DAZ-Wirtschaftsredakteur Dr. Thomas Müller-Bohn kommt zu dem Schluss: „Das Gutachten zeigt, dass die flächendeckende Versorgung wichtig ist, dort aber Lücken drohen. Außerdem lässt es Sympathie für das Rx-Boni-Verbot erkennen. Doch das Gutachten bekräftigt auch die derzeit viel zitierte Aussage, dass das E-Rezept zum ‚Gamechanger‘ wird“ (empfehlenswert ist auch der Kommentar von Müller-Bohn dazu). Also, mein liebes Tagebuch, das Gutachten liest sich relativ unaufgeregt, es liefert viele Daten und Ideen, stellt keine politischen Forderungen auf und überlässt mögliche Konsequenzen den Leserinnen und Lesern. Wenn sich die Abgeordneten des Bundestags über die Situation der Apotheken, über Auswirkungen und Szenarien ein Bild machen wollen – das Gutachten liefert Grundlagen dafür, lässt den Leser allerdings auch ein Stückweit damit allein, was er mit diesen Daten und Ideen anfangen soll. Schön, kann man nun meinen, was soll’s. Aber vielleicht hätte das Gutachten die Chance gehabt, einen Beitrag zur Frage zu leisten: Wie viele Apotheken überleben langfristig ohne eine sichere Grundlage für ihre Preise? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich da leider kaum finden.
Für den CDU-Politiker Michael Hennrich allerdings war das Gutachten eine erhellende Lektüre. Auch wenn es selbst kein eigentliches Fazit ausweist, zieht Hennrich sein persönliches Fazit aus dem Gutachten, nämlich: „Ein Rx-Boni-Verbot ist machbar.“ Außerdem nimmt er noch drei weitere Erkenntnisse aus dem Gutachten mit: „Das E-Rezept führt zu einem Wettbewerbswandel. Die Entwicklung der OTC-Rabatte im Versand bleibt dynamisch und schwierig. Und pharmazeutische Dienstleistungen werden immer wichtiger für die Apothekenzukunft.“ Ja, mein liebes Tagebuch, kann man nur zum Teil so unterschreiben. Denn ob ein Rx-Boni-Verbot wirklich machbar ist, wird sich erst noch zeigen müssen – da könnten sich Entwicklungen im Markt ergeben, die zu juristischen Auseinandersetzungen führen und das Rx-Boni-Verbot am Ende doch aushebeln könnten. Und ob pharmazeutische Dienstleistungen immer wichtiger werden? Da kommt es sehr darauf an, was genau wir unter diesen Dienstleistungen verstehen und wie sie letztlich honoriert werden.
Eher kritisch sieht es die Gesundheitspolitikerin der Linke, Sylvia Gabelmann. Sie ist überzeugt, dass es mit dem IGES-Gutachten zum Apothekenmarkt nicht gelingen wird, den kommenden Streit mit EU-Kommission und EuGH für eine deutsche Preisbindung zu bestehen. Ein Scheitern des Rx-Boni-Verbots spätestens vor dem EuGH ist aus Gabelmanns Sicht vorprogrammiert. Und was sagt die ABDA zum Gutachten? Sie zeigt sich erstmal zurückhaltend, sehr zurückhaltend. Fritz Becker, Chef des Deutschen Apothekerverbands meint, aus dem Gutachten lässt sich ablesen, dass die Vor-Ort-Apotheke derzeit gegenüber dem Versandhandel systematisch benachteiligt werde. Daher müssten Boni und Rabatte, die die bundeseinheitliche Preisbindung unterlaufen, wieder untersagt werden. Und er ist auch der Überzeugung, dass mit dem E-Rezept ein „ungewolltes Versandhandels-Konjunkturprogramm“ aufgelegt werde. Die ABDA wird sich daher „konstruktiv und kritisch in den Gesetzgebungsprozess zum Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetz (VOASG) einbringen“. Nichts anderes erwarten wir.
Und es gibt weitere Reaktionen auf das IGES-Gutachten. Unter anderem von der gesundheitspolitischen Sprecherin der SPD-Fraktion im Bundestag, Sabine Dittmar. Sie meint zwar, dass das Gutachten „keine großartigen neuen Erkenntnisse“ geliefert habe. Allerdings liest sie aus dem Gutachten heraus, dass die flächendeckende Arzneimittelversorgung durch die Präsenzapotheken in Deutschland nicht in Gefahr sei. Mein liebes Tagebuch, da hat sie wohl ein bisschen oberflächlich drüber geguckt. Denn schaut man wirklich genau auf die Versorgungssituation, auf die Erreichbarkeit von Apotheken, dann erkennt man, dass vielerorts die Versorgung tatsächlich nur noch an einer einzigen Apotheke hängt. Und das ist kein Einzelphänomen an besonderen Standorten, sondern die Durchschnittssituation auf dem Lande, in kleinen Städten und in den Randbereichen städtischer Kreise. Liebe Frau Dittmar, ihr Fazit müsste also lauten: Die flächendeckende Arzneimittelversorgung durch die Präsenzapotheken in Deutschland ist NOCH nicht in Gefahr. Denn, mein liebes Tagebuch, wenn die Schließungen von Apotheken so schnell weitergehen wie bisher, haben wir ein Problem mit der Erreichbarkeit der nächsten Apotheke, vor allem auf dem Land und in Kleinstädten. Die Wege zur nächsten Apotheke würden für die Patienten empfindlich länger. Also, wenn unsere Vor-Ort-Apotheken noch weiter geschwächt werden, entstehen Versorgungslücken; die gewohnte und gewünschte Versorgung wäre nicht mehr gegeben.
„Neues Apotheken-Gesetz macht Aspirin teurer“ haut die BILD als Schlagzeile raus. Wie, was? Haben wir was übersehen? Nein, das Boulevardblatt blickt nicht durch, hat da wohl etwas missverstanden und liegt schräg daneben. Das Dumme ist nur, dass dadurch die Bevölkerung verunsichert wird. Also, BILD greift die Bundestagsberatung zum Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz (VOASG) auf und erklärt seinen Leser*innen, dass das VOASG den ausländischen Versandhandel zwingen soll, sich an die in Deutschland geltende Preisbindung für rezeptpflichtige Arzneimittel zu halten. Und dann nimmt BILD das IGES-Gutachten zur Hand und glaubt herausgelesen zu haben, „dass die Apotheker die Preise für frei verkäufliche Arzneien (u. a. Schmerztabletten wie Aspirin, Hustensäfte, Nasensprays) um rund ‚ein Viertel’ anheben werden, wenn der Versandhandel ihnen keine Konkurrenz mehr mit Rabattaktionen machen darf“. Oh je, mein liebes Tagebuch, ganz abgesehen davon, dass Aspirin, Hustensäfte und Nasensprays keine „freiverkäuflichen Arzneimittel“ sind, wirft BILD die Preisgestaltung von OTC und Rx in einen Topf. Aber zum Glück haben wir unsere ABDA, die sich da sofort zu Wort gemeldet hat und klarstellt: „Es ist schlichtweg Unsinn, dass die Preise von Schmerzmitteln und anderen rezeptfreien Medikamenten in Folge des VOASG steigen werden“, erklärt der ABDA-Präsident. „Das VOASG bezieht sich nur auf rezeptpflichtige Arzneimittel, deren Preise in Deutschland ohnehin reguliert sind. Auch ausländische Versandhändler sollen sich dem Gesetz zufolge künftig an deutsches Recht halten.“ Und er sagt auch, dass es bei rezeptfreien Arzneimitteln seit vielen Jahren einen freien Preiswettbewerb zwischen den Vor-Ort-Apotheken und Versandapotheken gebe, den es natürlich auch weiterhin gebe. So ist es, mein liebes Tagebuch – nur wurde aus diesem Statement leider kleine BILD-Schlagzeile. Aber dafür kann die ABDA nichts.
5 Kommentare
Weichenstellung ...
von Reinhard Herzog am 13.09.2020 um 14:42 Uhr
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AW: Knöpfe drücken, net luschig sein
von Wolfgang Müller am 13.09.2020 um 20:12 Uhr
Kollateralschaden
von Reinhard Rodiger am 13.09.2020 um 13:50 Uhr
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Komplette und komplexe Unwissenheit über die Deutsche Apothekenlage im Bundestag
von Heiko Barz am 13.09.2020 um 11:54 Uhr
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von Anita Peter am 13.09.2020 um 8:18 Uhr
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