Arzneimittel-Lieferengpässe

Mehr Europa – und vor allem mehr Transparenz!

Stuttgart - 03.12.2020, 17:50 Uhr

Im Rahmen der „Konferenz zur zukünftigen Arzneimittelversorgung in der Europäischen Union“ wurde die Stellung Europas bei Arzneimittelengpässen erörtert und die Bedeutung von mehr Transparenz betont. (Foto: artjazz / stock.adobe.com)

Im Rahmen der „Konferenz zur zukünftigen Arzneimittelversorgung in der Europäischen Union“ wurde die Stellung Europas bei Arzneimittelengpässen erörtert und die Bedeutung von mehr Transparenz betont. (Foto: artjazz / stock.adobe.com)


Am vergangenen Montag und Dienstag hat online die „Konferenz zur zukünftigen Arzneimittelversorgung in der Europäischen Union“ stattgefunden – organisiert in Zusammenarbeit mit den Leitern der EU-Zulassungsbehörden und dem Europäischen Verband der Arzneimittelhersteller, AESGP. Bemerkenswert waren dabei vor allem die Äußerungen der deutschen Behördenvertreter: Das Verfolgen von Transparenzzielen gilt aus deutscher Sicht als unverzichtbar für jede weitere Maßnahme gegen Lieferengpässe. Eine entsprechende gesetzliche Regel sei auch auf EU-Ebene notwendig, hieß es.

Am 25. November war es so weit, die Europäische Kommission präsentierte ihre mit Spannung erwartete Pharmastrategie. Ein durch die Corona-Krise umso wichtigeres Thema darin: „der Aspekt der Versorgungssicherheit“. DAZ.online berichtete darüber, dass mit der Pharmastrategie nun „strengere Verpflichtungen zur Transparenz bei Lieferungen und Lagerbeständen, eine frühere Meldung von Engpässen und Marktrücknahmen und eine stärkere EU-Koordinierung sowie Mechanismen zur Überwachung, Verwaltung und Vermeidung von Engpässen“ angekündigt wurden. Die Kommission wolle dazu zunächst in einen „strukturierten Dialog“ mit den Akteuren in der Wertschöpfungskette der Arzneimittelherstellung und den jeweiligen Behörden eintreten, hieß es.

Ein solcher erster Dialog hat nun öffentlich am 30. November und 1. Dezember im Rahmen der „Konferenz zur zukünftigen Arzneimittelversorgung in der Europäischen Union“ stattgefunden. Sie gilt als Teil des assoziierten Programms des Bundesministeriums für Gesundheit im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 (1. Juli – 31. Dezember 2020). Veranstaltet wurde die Online-Konferenz vergangenen Montag und Dienstag vom Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e.V. (BAH): Besondere Beachtung sollte neben dem Thema Versorgungssicherheit auch der Verwendung von Versorgungsdaten und Freistellungen aus der Verschreibungspflicht zukommen – alles unter dem Dach der Digitalisierung.

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Um den europäischen Ansatz gegen Arzneimittel-Lieferengpässe zu diskutieren, hatte auch die ABDA am Dienstag Vertreter von Fachverbänden sowie EU-Politiker zu einer digitalen Fachkonferenz geladen. DAZ.online hat bereits darüber berichtet. 

Vor allem zwei Aspekte wurden in Verbindung mit den Stichworten „Arzneimittelversorgung“, „Corona“ und „Lieferengpässe“ wiederholt bei der BAH-Konferenz erwähnt: die verstärkte Rolle Europas von allen Seiten, während deutsche Referenten vor allem auf mehr Transparenz drängten

Zur Eröffnung der Online-Konferenz betonte Margaritis Schinas, der Vizepräsident der Europäischen Kommission, dass Corona gezeigt habe, dass Europa ein neues und stärkeres „European Centre for Disease Prevention and Control“ (ECDC) brauche. Man benötige eine proaktive Behörde, die nicht nur Zahlen berichtet.

Mandat der EMA soll erweitert werden

Corona habe auch gezeigt, dass man keine neuen Mauern in der EU möchte, vielmehr wolle man das Mandat der europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) erweitern, um Engpässe abzumildern und Zulassungen zu beschleunigen. Klaus Cichutek, Präsident des deutschen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), betonte ebenfalls den globalen Charakter einer Pandemie. Man müsse sich auch auf die nächste Pandemie vorbereiten, die sicher kommen werde.

Und auch der BAH-Vorstandsvorsitzende Jörg Wieczorek betonte, dass nationaler Protektionismus nicht gefragt sei – die Arzneimittelhersteller seien systemrelevant, und es brauche offene Grenzen. Die globalen Lieferketten müssten durch Anbietervielfalt gestärkt werden, der europäische Produktionsanteil bürokratiearm zugänglich gemacht werden. Anreize könnten etwa durch regulatorische Erleichterungen und beschleunigte Genehmigungen geschaffen werden. Auch die klinische Forschung müsse in Europa wieder gestärkt werden.

Birgit Schuhbauer, Präsidentin des Europäischen Verbands der Arzneimittelhersteller (AESGP), dankte in Ihrer Eröffnungsrede mehrfach für den Einsatz der Apotheker:innen in der Corona-Pandemie. 

Mehr Transparenz – nicht nur in Schwellenländern 

Am zweiten Konferenztag ging es schließlich darum, kurz- und langfristige Lösungsansätze zur Bewältigung von Lieferengpässen aufzuzeigen; ein Problem, das schon lange besteht, aber unter dem Brennglas der Corona-Pandemie noch stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten ist. Das wurde von verschiedenen Teilnehmern der Konferenz betont.

Apotheker:innen, die das Lieferengpassthema gezwungenermaßen schon lange begleiten, wissen, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gerne den Unterschied zwischen Lieferengpässen und Versorgungsengpässen betont – auch wenn dieser Unterschied im Apothekenalltag oft nicht so direkt zu spüren ist. So erklärte BfArM-Präsident Karl Broich, dass man es mit echten Versorgungsengpässen wie in der Pandemie nur zu tun habe, wenn es nicht genügend Alternativen gebe.

Er betonte aber auch, dass es mehr Transparenz braucht, wenn man in Zukunft Lieferengpässe vermeiden möchte. Dabei geht es nicht nur um die Produktion in Schwellenländern. Er benannte in diesem Zusammenhang auch Norditalien und die Beispiele Melphalan, Epirubicin und Propofol

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Broich verwies zudem auf die Schritte – hin zu mehr Transparenz –, die man in Deutschland etwa im Rahmen der Nitrosamin-Krise bereits gegangen ist. Man habe extra die Gesetzgebung in Deutschland geändert. DAZ.online berichtete darüber: Mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung (GSAV) trat im Sommer 2019 auch eine neue Transparenzvorschrift in Kraft. Der oder die Wirkstoffhersteller von Arzneimitteln sollten künftig in einer öffentlichen Datenbank zu finden sein. Allerdings: Als DAZ.online im September dieses Jahres nachhakte, was aus der geplanten Datenbank geworden ist, teilte das BfArM mit, dass „es – bedauerlicherweise – noch keinen neuen Stand“ gibt. Man verwies auf ein laufendes Klageverfahren und konnte keine Aussage zum Zeithorizont machen, wann öffentliche Informationen über Wirkstoffhersteller verfügbar werden.

Außerdem hat der Gesetzgeber mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz den 2016 beim BfArM etablierten „Jour Fixe zu Liefer- und Versorgungsengpässen“ auf neue Füße gestellt. Er ist seit diesem Sommer ein gesetzlich verankerter Beirat der Behörde (§ 52b Abs. 3b Arzneimittelgesetz). Und Broich erwähnte auch die neue Befugnis des BfArM, Daten und Informationen zu existierenden und drohenden Lieferengpässen von pharmazeutischen Unternehmen und Großhändlern abzufragen. 

Den Aspekt der Transparenz griff schließlich auch Thomas Müller, Leiter der Abteilung Arzneimittel, Medizinprodukte, Biotechnologie des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG), auf. Man verfolge die im Rahmen der Nitrosamin-Krise gesetzten Transparenz-Ziele weiter, hieß es. Sie seien unverzichtbar für jede weitere Maßnahme. Eine entsprechende gesetzliche Regel sei auch auf EU-Ebene notwendig. Wie DAZ.online berichtete, dürften vor allem die Arzneimittelhersteller an dieser Stelle Einwände haben.

FDA ist bei Qualitätsprüfung handlungsfähiger

Müller erklärte auch, dass die Sartan-Krise gezeigt habe, dass die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA in der Qualitätsprüfung vor Ort Europa überlegen sei. Sie sei handlungsfähiger, auch in Drittstaaten. Inspektionen sind im Rahmen der Pandemie zurückgefahren worden. Man könne die Zeit, also historisch gewachsene Lieferketten, nicht zurückdrehen, aber die Qualität müsse stimmen. Auch politische Maßnahmen können Lieferketten beeinflussen, das hat Corona gezeigt, aber auch erste Krankenkassen haben sich mit Rabattverträgen die Verbesserung von Lieferketten zum Ziel gesetzt.

Müller betonte auch, dass Europa nicht komplett abhängig von Drittländern ist – beispielsweise bei Impfstoffen sei dies nicht so. „Wir haben in Europa durchaus auch Bereiche in puncto Arzneimittel, in denen wir exportieren. Die EU ist tatsächlich Netto-Exporteur insgesamt betrachtet“, sagte er. Die Komplexität der Arzneimitteltherapie könne aber nicht komplett in der EU abgebildet werden. Vor allem im Bereich der Generika, Antibiotika und Intensivtherapie müsse man dennoch unabhängiger werden. Es bräuchte also eine Liste, auf deren Grundlage Maßnahmen erfolgen. Schließlich sei auch wichtig, dass die Arzneimittelherstellung in Europa nicht nur eine Frage der Versorgung, sondern auch des Know-hows ist.

Müller betonte zudem, dass Regeln, Meldepflichten und eventuelle Sanktionen nicht die Kommunikation mit Anwendern, Ärzten und Apothekern ersetzen könnten. Sanktionen würden nicht unbedingt die Versorgungssituation verbessern. 

Am Ende sei auch die EU nur ein Player auf dem globalen Markt. Man müsse sich also mit „Argumenten“ auf bestimmte Bereiche „konzentrieren“ – Produktionsstätten in bestimmten Drittstaaten könnten nicht einfach diskriminiert werden. Erpressbar dürfe man aber auch nicht sein. 

Auch der Diskussion um finanzielle Fragen und Innovationen muss man sich laut Müller als EU stellen. Die Impfstoffe seien im Rahmen der Corona-Krise ein gutes Beispiel: Während etwa Masken und Beatmungsgeräte eine Art Rückgrat bildeten, seien Impfstoffe und Innovationen die Hoffnungsträger. Man habe Technologien wie die mRNA-Impfstoffe über Risikokapital am Leben gehalten und forsche ja nicht erst seit Corona daran. Innovationen bräuchten stabile Förderung, wobei man sich nicht allein auf den Preis konzentrieren solle. Die wirtschaftlichen Anreize sollten mindestens so hoch sein wie etwa in der Automobilindustrie oder Telekommunikationsbranche.

Die Frage der Finanzierung und Sanktionen

Stellvertretend für Andrzej Rys, Direktor für Gesundheitssysteme, Gesundheitsprodukte und Innovation der Europäischen Kommission, ging Sylvain Giraud auf die Frage nach der finanziellen Förderung ein. Er stellte klar, dass die Rückholung der Arzneimittelproduktion in die EU keine Sache der Krankenkassen sei, sondern eine wirtschaftspolitische Maßnahme. Der Aufbau von Reserven sei eine Frage des Katastrophenschutzes.

Stefanie Stoff-Ahnis vom GKV-Spitzenverband ging ebenfalls auf die finanziellen Aspekte ein. Sie gab zu bedenken, dass finanzielle Anreize für die Rückverlagerung der Arzneimittelproduktion in die EU zu teureren Arzneimitteln ohne eine Verbesserung der Lieferfähigkeit führen könnten. Man erwarte, dass Pharmahersteller ihre Verpflichtung wahrnehmen. 

Sie gab zu bedenken, nicht die historisch gewachsene Arbeitsteilung zu zerstören. Länder wie Indien und China seien von der Herstellung generischer Wirkstoffe auch insofern abhängig, damit sie höherpreisige Produkte aus der EU importieren könnten. Die Herstellung in der EU schließt zudem mögliche Engpässe nicht aus. Stoff-Ahnis verwies auf ein Sondergutachten des Wirtschaftssachverständigenrats, das die Rückverlagerung der Arzneimittelproduktion in die EU als wenig zielführend beschreibt – besser seien nationale und europäische Bevorratung. 

Stoff-Ahnis plädierte schließlich für eine Diversifikation der Produktion und Transportwege sowie mehr Transparenz im Herstellungsprozess. Sie nannte Vertragsstrafen als Instrument. Zudem müsse die Daten-/Informationslage verbessert werden, etwa indem die Verfügbarkeit von Arzneimitteln schon in der Arztpraxis sichtbar gemacht werde. Reserven und Vorräte brauche es für kurzfristige Ausfälle. Stoff-Ahnis begrüßte ausdrücklich die stärkere koordinierende Rolle der EMA.

Die neue Leiterin der EMA, Emer Cooke, betonte, dass die Lieferengpässe noch nicht formal Teil des Mandats der EMA seien (Vorschlag einer neuen Verordnung). Im Rahmen der Corona-Pandemie sei die EMA von der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten ersucht worden, sich im Umgang mit Lieferengpässen stärker einzubringen. Cooke verwies auf die zahlreichen Maßnahmen, die vonseiten der EMA bereits ergriffen wurden. So wurde eine extra EU-Exekutiv-Lenkungsgruppe zu Arzneimittelknappheit aufgrund von Großereignissen eingerichtet. Diese Gruppe hat das i-SPOC-System (Industry Single Point of Contact) errichtet – ein Meldesystem, über das gemeinsam mit der pharmazeutischen Industrie (erwartete) Engpässe direkt an die EMA kommuniziert werden sollen. Sie verwies auch auf die „European Medicines Agencies Network (EMAN) Strategy to 2025“. Die neue gestärkte Rolle der EMA soll nicht nur das Thema Arzneimittel-Lieferengpässe und Krisenmanagement einschließen, sondern auch Engpässe bei Medizinprodukten. 



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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