Arzneimittelengpass in Deutschland und Europa

„Die Apotheker brauchen mehr Rückendeckung“

Stuttgart - 07.11.2023, 07:00 Uhr

Der Europaabgeordnete Peter Liese (CDU) setzt sich seit vielen Jahren auf europäischer Ebene für die Gesundheitspolitik und für die Belange der Apotheken ein. (Foto: Christoph Meinschäfer) 

Der Europaabgeordnete Peter Liese (CDU) setzt sich seit vielen Jahren auf europäischer Ebene für die Gesundheitspolitik und für die Belange der Apotheken ein. (Foto: Christoph Meinschäfer) 


Die EU-Kommission will den Arzneimittelengpass mit einem Verteilmechanismus, einer Liste besonders wichtiger Arzneimittel und der Förderung der Produktion in Europa bekämpfen. Wie der Solidaritätsmechanismus aussehen soll, erklärt der Europaabgeordnete Peter Liese (CDU). Mit Blick auf Deutschland stellt der Mediziner dem Bundesgesundheitsminister Lauterbach ein schlechtes Zeugnis aus. Zudem sendet der Europapolitiker aus NRW den Apothekern ein wichtiges Signal.  

DAZ: Die EU-Kommission hat ein Strategiepapier gegen Arzneimittelengpässe vorgestellt. Sie sprechen bei den kurzfristigen Maßnahmen von einer Notoperation wie groß ist denn die Überlebenschance des Patienten?

Liese: Das Thema ist sehr ernst – vor allem mit Blick auf den Winter. Es gibt oft keine optimale Therapie und es ist für Apotheker:innen, Ärzt:innen und medizinisches Personal eine extreme Belastung. Der Patient stirbt nicht, aber es ist eine ernsthafte Krankheit. Es gibt aus meiner Sicht als Arzt und aus Patientensicht zurzeit in Deutschland neben der Migration und der wirtschaftlichen Problematik kein anderes Thema, das so wichtig ist und bei dem sich die Menschen so konkret Sorgen machen.     

Mehr zum Thema

EU-Kommission legt Maßnahmenpaket gegen europaweiten Arzneimittelmangel vor

EU-Strategiepapier gegen Lieferengpässe

DAZ: Es ist für diesen Winter ein Solidaritätsmechanismus vorgesehen. Wie wollen Sie besser verteilen, was gar nicht oder zu wenig vorhanden ist?

Liese: Die Probleme sind vielschichtig. Der erste Schritt ist: Die Europäische Kommission hat nun mehr Rechte, den Markt zu überwachen. Trotzdem fehlt es an Transparenz. Ein Großhändler sagte mir, dass sie in manchen Außenstellen-Lagern Probleme mit Amoxicillin haben – das ist aber der Europäischen Arzneimittelstelle nicht bekannt, weil die Hersteller sagen: Wir haben genug. Es ist also ein Verteilungsproblem. Möglicherweise hat der „Keine Hamsterkäufe“-Appell von Bundesgesundheitsminister Lauterbach eine umgekehrte Wirkung hervorgerufen: Viele Leute haben sich danach erst recht mit knappen Arzneimitteln eingedeckt. Der für diesen Winter vorgesehene Solidaritätsmechanismus ist ein Instrument, das dazu dient, Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Ausnahmefällen zu unterstützen, wenn sie mit kritischen Engpässen bei der Versorgung mit wichtigen Medikamenten konfrontiert sind. Dieser Mechanismus greift nur, wenn ein Mitgliedstaat alle anderen verfügbaren Optionen zur Behebung des Engpasses ausgeschöpft hat und keine therapeutischen Alternativen zur Verfügung stehen.

Die EMA spielt zentrale Rolle beim EU-Verteilmechanismus

DAZ: Wie funktioniert der Verteilmechanismus konkret?
Liese: Um auf die Frage zu antworten: Die Verteilung von knappen medizinischen Ressourcen im Rahmen dieses Mechanismus basiert auf dem Prinzip der Solidarität und der koordinierten Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Hierbei geht es nicht darum, nicht vorhandene Ressourcen zu verteilen, sondern um die effiziente Allokation und Nutzung von vorhandenen, aber begrenzten Ressourcen innerhalb der EU, um eine Versorgungskrise zu verhindern oder zu mildern. Konkret würde das so funktionieren, dass ein Mitgliedstaat, der einen Engpass meldet, durch die Medicines Shortages Steering Group (MSSG) unterstützt wird. Diese Gruppe evaluiert die Anfrage und koordiniert die Kommunikation zwischen den Mitgliedstaaten, um zu ermitteln, ob andere Länder die benötigten Medikamente zur Verfügung stellen können. Die Entscheidungen darüber, wie die vorhandenen Medikamente verteilt werden, basieren auf den dringendsten Bedürfnissen und darauf, den größtmöglichen Nutzen für die Patienten in der gesamten EU zu erzielen. Die EMA spielt dabei eine zentrale Rolle, indem sie Informationen sammelt und die logistische Organisation unterstützt, um sicherzustellen, dass die Medikamente dorthin gelangen, wo sie am dringendsten benötigt werden.

„Wir haben schon 2019 auf das Problem hingewiesen“

DAZ: Sind die Maßnahmen nicht viel zu spät: Bereits im vergangenen Winter gab es Lieferengpässe. Und während der Corona-Pandemie gab es 2020 ein ähnlich lautendes Papier, um Produktion und Lieferketten krisenfester zu machen – offenbar ohne Folgen.

Liese: Aus meiner Sicht geht es noch weiter zurück. Die Aktivitäten sowohl der deutschen Bundesregierung als auch der Europäischen Kommission kommen vier Jahre zu spät. Wir haben schon 2019 mit Experten auf das Problem hingewiesen. Die Warnungen sind leider verhallt. In meinem ersten offiziellen Antrag beim Europäischen Parlament 2019 habe ich die Frage nach systematischen Arzneimittelengpässen aufgeworfen. Von den anderen Fraktionen – Sozialdemokraten, Grüne, Linke und Liberale – gab es nur die lapidare Antwort: Wir haben den Green Deal und keine Zeit, uns mit Gesundheitsfragen zu beschäftigen. Es ist sträflich, dass wir auf taube Ohren gestoßen sind.

Ein Mediziner für Brüssel

Dr. med. Peter Liese (58) sitzt seit 1994 als Europaabgeordneter der CDU für Nordrhein-Westfalen im Europäischen Parlament. Der Mediziner aus Meschede ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament und Sprecher der größten Fraktion (EVP-Christdemokraten) für Umwelt, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen. Von 2012 bis 2018 war Peter Liese zudem Mitglied im Bundesvorstand der CDU.

Peter Liese bei einer Rede im Europaparlament.  (Foto: Europabüro Liese)

EU-Studie zur API-Produktion in Europa

Rückholen – aber wie?

Entwurf der EU-Kommission für neues Arzneimittelrecht

Neue Idee für innovative Antibiotika

DAZ: Gibt es dafür jetzt eine höhere Priorität auf EU-Ebene?

Liese: Ja, bei den Akteuren ist das auf jeden Fall angekommen – auch bei der Kommissionspräsidentin und der Kommissarin. Ich hoffe, dass die Mitgliedstaaten entsprechend mitziehen – da bin ich mir aber nicht bei allen sicher. Meine Kritik an Gesundheitsminister Lauterbach ist, dass er auf europäischer Ebene nicht sehr interessiert und nicht sehr gut vernetzt ist. Er hat auf meine Fragen bisher nicht geantwortet. Wir können das Problem nur gemeinsam lösen. Niemand wird eine Arzneimittelfabrik in Europa bauen, nur weil Deutschland irgendwelche Prioritäten setzt. Herr Lauterbach vermittelt den Eindruck, er habe mit seinen Initiativen in den vergangenen Monaten das Problem schon gelöst. Das ist es aber ganz sicher nicht.

„Wir müssen bei Generika mehr Geld ins System geben“

DAZ: Was ist Ihr Hauptkritikpunkt an den Lauterbach-Vorschlägen?

Liese: Es ist richtig, Arzneimittel für Kinder besser zu honorieren und bei den Ausschreibungen stärker darauf zu achten, dass neben dem Preis auch die Produktion innerhalb der EU zählt. Aber erster Kritikpunkt: auch Arzneimittel für Erwachsene sind knapp und das führt zu dramatischen Situationen – etwa bei Herz- oder Krebsarzneimitteln sowie bei Mitteln gegen psychische Erkrankungen. Dort hat er keine Initiative ergriffen. Zweitens: Die Kostenträger, also die Krankenkassen, sehen keine Notwendigkeit, bei den Generika mehr Geld in das System zu geben. Ich sehe das anders: Das müssen wir tun. Allerdings ist die Kritik der Kassen berechtigt, dass die Maßnahme allein in Deutschland die Produktion in Europa zu honorieren, verpufft. Herr Lauterbach müsste die Maßnahmen mit seinen europäischen Kollegen gemeinsam umsetzen. Damit würde man den Herstellern das Signal geben: Das lohnt sich für euch – weil der Markt deutlich größer ist.

DAZ: Die Arzneimittelproduktion zurück nach Europa zu holen – in welchen Zeiträumen muss man da denken?

Liese: Es gibt zwei Punkte auch mit kurzfristiger Wirkung. Es gibt hierzulande Produktionsstätten und Kapazitäten, die nicht genutzt werden. Ein Generika-Hersteller erzählte mir, dass er sofort mit der Produktion starten könnte, alle Anlagen und Kapazitäten und Personal stünden bereit, aber er geht nicht in den Markt, weil er kein Minus machen will. Der zweite Punkt ist: Wir brauchen 6 bis 7 Jahre, bis eine neue Arzneimittelfabrik in Europa genehmigt und gebaut ist. Die Hälfte der Zeit vergeht für Genehmigungsverfahren. Das muss man beschleunigen. Wir werden in Deutschland weder Arzneimittelengpässe, Wirtschaftskrise noch Energiewende schaffen, wenn wir nicht schneller mit Genehmigungsprozessen werden. Bürokratieabbau und schnellere Entscheidungen – das ist wichtig. Während Corona haben wir vieles schneller geschafft: Das Impfstoff-Werk von Biontech in Marburg wurde in nur acht Monaten umgebaut. Ähnliche Beschleunigungen müssen wir nun bei anderen wichtigen Präparaten umsetzen.

DAZ: Der Preisdruck bei Generika ist enorm. Wie wollen Sie hier die Preisschraube zurückdrehen?

Liese: Daran wird schon seit mehr als 20 Jahren gedreht, nicht erst seit den Rabattverträgen. Das hat sich über Jahre aufgebaut. Wir müssen Produktion und Lieferfähigkeit in Europa honorieren. Wer das zuverlässig garantieren kann und dort produziert, wo die Lieferketten einfacher sind, der sollte das bezahlt bekommen. Bei Generika liegen die Tagestherapiekosten teilweise bei 1 Cent – das ist nicht auskömmlich für Produzenten in Europa. Und der Generika-Anteil im Budget der Kassen ist nicht groß.

DAZ: Generika verursachen rabattbereinigt pro Jahr mit etwa zwei Milliarden Euro nur etwas mehr als 7 Prozent der GKV-Gesamtausgaben, decken aber 80 Prozent der Therapiedosen ab. Wie wollen Sie Geld umverteilen?

Liese: Man muss erst einmal das Problem benennen, um es lösen zu können. Wenn ein Krankenhaus Kinder nicht nachhause schicken kann, weil ein Antibiotikum oral fehlt, entstehen enorme Kosten in einem ohnehin überlasteten System. Der gesellschaftliche Schaden, der hier durch Arzneimittelknappheit entsteht, ist kaum zu beziffern. Es gibt in unserem Gesundheitssystem sehr viele Punkte, an denen wir effizienter werden können und müssen – auch außerhalb des Arzneimittelbereichs.   

ALBVVG: Pharmaverbände fordern Senkung des Kostendrucks bei allen Generika

„Dieses Gesetz wird das Engpass-Problem nicht lösen“

Geplantes Gesetz gegen Lieferengpässe

Pharmaverbände: Kostendruck für alle Generika senken!

DAZ: Sehr teure, innovative Arzneimittel kommen wenigen Patienten zugute und machen nur etwa 5 Prozent der Tagestherapiedosen aus, verursachen aber den Hauptanteil der Gesamtkosten für Arzneimittel. Wäre hier eine Kosten-Umverteilung denkbar?

Liese: Ich bin sehr für Innovation und dafür, dass wir sie honorieren. Aber es gibt sehr viele Präparate, die nicht den gewaltigen therapeutischen Fortschritt bringen, sondern Metoo-Präparate sind und trotzdem im ersten Jahr in Deutschland einen enormen Preis verlangen. Wenn wir all das in die Waagschale werfen, dann gibt es Grund bei kritischen Generika mehr zu bezahlen. In Deutschland ist dieses Problem systematisch besonders ausgeprägt – hier wurde bei Generika besonders stark auf die Sparbremse gedrückt. 

Alle haben das Problem unterschätzt

DAZ: Sie kritisieren hierzulande eine ausgeprägte „Billigmentalität“.

Liese: Ja, in der Tat – die Anfänge haben mit der SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und deren Berater Lauterbach begonnen. Allerdings muss man selbstkritisch anmerken, dass die CDU in ihrer Regierungszeit und auch die FDP mit Daniel Bahr und Philipp Rösler nicht die Kraft hatten, dies zu ändern. Es haben alle das Problem unterschätzt. Es wurde nicht entscheidend umgesteuert. Bei Jens Spahn (CDU) würde ich eine gewisse Gnade walten lassen, da er in der Pandemie andere Schwerpunkte setzen musste.

DAZ: Wie fällt Ihre Halbzeitbilanz von Gesundheitsminister Lauterbach aus?

Liese: Er hat zu Beginn eine zu hohe Priorität allein auf die Pandemie gelegt, obwohl nach Ansicht der meisten Experten der Schrecken mit Omikron vorbei war – also spätestens im vergangenen Herbst. Er hätte früher die Engpässe angehen und auf europäischer Ebene arbeiten müssen. Wir können das Übel nur gemeinsam an der Wurzel packen.

DAZ: Im November stehen in Deutschland die Proteste der Apotheker an. Wie beurteilen Sie deren Lage?

Liese: Die Engpässe belasten die Apotheken enorm und bringen zusätzlichen Ärger und Arbeit mit sich. Die Apotheker stehen an der Front und müssen mehr Rückendeckung von der Politik bekommen, weil sie ihre Fachkompetenz einbringen und für die Fehler der Politik nicht in Haftung genommen werden dürfen. Zu den Details in der deutschen Debatte um die Strukturen erlaube ich mir kein umfassendes Urteil. Ich wertschätze das Apothekenwesen sehr und stehe in einem intensiven Kontakt, um europäische Anliegen einzubringen. Die Attacken aus Brüssel auf das deutsche Apothekenwesen mit Blick auf das Wettbewerbsrecht haben wir erfolgreich mit der ABDA abwehren können.

DAZ: Was sagen Sie zu den Lauterbach-Plänen mit „Apotheken light“?

Liese: Die wohnortnahe Versorgung ist extrem wichtig, das muss Politik berücksichtigen – bei all ihren Entscheidungen. Nachts um 2 Uhr einen Fiebersaft für das Kind bekomme ich nicht von DocMorris, sondern nur von einer Apotheke, die standortgebunden ist. Und die Beratung leisten auch nur diese Apotheken. Zu innenpolitischen Detailfragen habe ich keine abschließende Meinung, ich bezweifle aber, dass dies eine gute Idee ist.


Stefanie Keppler, DAZ-Ressortleiterin
skeppler@daz.online


Diesen Artikel teilen:


2 Kommentare

erst Deckung, dann Rückendeckung

von Thomas B am 07.11.2023 um 9:47 Uhr

Nur mit mehr Rückendeckung wird das nicht funktionieren. Solange jede Packungsabgabe betriebswirtschaftlich betrachtet ein Minusgeschäft darstellt, kann sich nichts ändern. Hier ist eine kostenbedingte und sehr deutliche Anpassung unabdingbar! Jetzt rächt sich die Verschleppungstaktik aller bisherigen Regierungen seit Ulla Schmidt. Und Herr Lauterbach war stets dabei, der hätte das nicht nur frühzeitig sehen und erkennen können, sondern müssen!
Seine Ideen mit immer neuen Aufgaben und Berufsbilderweiterungen können ohne Honoraranpassung in Höhe der Kostenentwicklung der letzten 10 (eigentlich 20) Jahren nicht funktionieren. Und: Jede NEUE Aufgabe kann keinesfalls als bereits eingepreist gelten, sondern muss unter einer Vollkostenrechnung auskömmlich sein. Von einer solchen Einsicht ist sowohl Herr Lauterbach als auch seine gesammelte Entourage leider weit entfernt. Seine Überlegungen zur Apotheke light würden in einigen Jahren sehr leicht voraussichtlich fatale und finale Folgen für das gesamte Distributionsgefüge haben. Ähnliches wurde bereits den Folgen der Gesundheitspolitik von Ulla Schmidt vorhergesagt und leider nicht gehört. Macht die deutsche Gesundheitspolitik denselben Fehler wieder?

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Engpässe

von peter am 07.11.2023 um 9:33 Uhr

belasten MICH eigentlich garnicht. Die Belastung hat angefangen, als unser Betriebsergebnis wegen der allgemeinen Kostenexplosion kollabiert ist und die Politik uns trotz unserer WIRKLICHEN FINANZIELLEN SORGEN verbal attackiert, verbal degradiert, ignoriert.

Stress mit super income habe ich keine Probleme (positiver Stress), Stress ohne Benefit ist negativer Stress.

Und das Problem heute:
Selbst wenn wir jetzt schlagartig keine Lieferengpässe mehr hätten würde DAS nicht das Geringste an der finanziellen Situation der Apotheke in D ändern.

Also unterlasst es bitte uns in unserer Gesamtheit zu unterstellen, dass uns die Lieferengpässe am schlimmsten belasten. Kastanien aus dem Feuer zu holen sind wir gewohnt. Die aktuelle finanzielle Situation und der fehlende Ausblick auf nur ein bisschen Zukunftssicherheit machen uns fertig!





» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.